Die Stimme des Herrn.
Jahrhundert, einer anderen Epoche wäre er zweifellos ein gestrenger Mystiker, ein Systemschöpfer geworden, in der unseren, einer durch die Fülle von Entdeckungen, die jedes Systemgefüge wieSchrapnelle zerfetzten, ernüchterten, einer den Fortschritt wie nie zuvor beschleunigenden und ihn zugleich verabscheuenden Epoche, war er lediglich Kommentator und Analytiker.
Er sagte mir einmal, ich weiß es noch, daß er die Möglichkeit erwogen habe, eine Art Metatheorie der philosophischen Systeme zu schaffen oder auch ein allgemeines Programm zu erstellen, mit Hilfe dessen man diesen Schöpfungsakt automatisieren könne: Eine entsprechend eingestellte Maschine würde zuerst die existierenden Systeme herstellen und würde dann, in den durch ein Versehen oder die Inkonsequenz der großen Ontologen gebliebenen Lücken, neue erzeugen – mit dem Leistungsvermögen eines Automaten, der Schrauben oder Schuhe produziert. Und er hatte diese Arbeit sogar schon in Angriff genommen – er hatte ein Wörterbuch, eine Syntax, Transpositionsregeln, kategoriale Hierarchien zusammengestellt, etwas wie eine semantisch weitergeführte Metatheorie der Typen, doch dann hatte er die Aufgabe für unergiebig befunden, für einen Spaß, der weitere Mühen nicht lohnte, weil sich nichts daraus ergab, außer daß es möglich war, jene Netze, Käfige oder Gebäude, ja meinethalben auch Kristallpaläste herzustellen, die aus Worten aufgebaut sind. Er war ein Misanthrop, kein Wunder also, daß – wie neben meinem Bett die Bibel, neben dem seinen Schopenhauer lag. Die Konzeption, den Begriff der Materie durch den Begriff des Willens zu ersetzen, mußte ihm belustigend erscheinen.
»Ebensogut könnte man ›ES‹ eigentlich einfach als Geheimnis definieren«, sagte er, »und das Geheimnis quanteln, zerstreuen, an Kristallen beugen, fokussieren und filtrieren. Wenn man wiederum annimmt, daß man den ›Willen‹ total aus dem Innern der fühlenden Subjekte aussondern könnte, und wenn man ihm dann noch eine Art ›Eigenbewegung‹ zuschreibt, einen Hang zu ewigem geschäftigem Gerenne, wie er uns an den Atomen so sehr verwirrt,weil er nur Schwierigkeiten bereitet, nicht nur mathematische – was hält uns dann eigentlich davon ab, uns mit Schopenhauer zu versöhnen?«
Er behauptete, die Zeit der Renaissance jener Schopenhauerschen Vision werde noch kommen. Im übrigen war er durchaus nicht nur der Apologet des kleinen, zornigen, fanatischen Deutschen.
»Seine Ästhetik ist inkonsequent. Vielleicht vermochte er es aber nur nicht auszudrücken, der Genius temporis erlaubte es ihm nicht. In den fünfziger Jahren habe ich einmal einem Atomtest beigewohnt. Ist Ihnen bekannt, Herr Hogarth«, anders redete er mich niemals an –, »daß es nichts Schöneres gibt als die Farben eines Atompilzes? Keine Beschreibung, keine Farbaufnahme ist imstande, dieses Wunder wiederzugeben, das ja nur reichlich zehn Sekunden dauert, dann steigt, vom Sog emporgehoben, der Dreck auf, wenn sich die Feuerblase ausdehnt. Danach entweicht die Feuerkugel wie ein Ballon, der sich losgerissen hat, in die Wolken, und die ganze Welt ist für einen Augenblick wie in Rosarot getaucht – Eos Rhododaktylos … Das neunzehnte Jahrhundert hat fest daran geglaubt, daß das, was todbringend ist, auch abscheulich sein muß. Wir wissen mittlerweile, daß es schöner sein kann als ein Orangenhain. Hinterher sind alle Blumen wie erloschen, welk – und das passiert dort, wo die Strahlung im Bruchteil von Sekunden tötet!«
Ich hörte ihm zu, in den Sessel verkrochen, und zuweilen, ich gestehe es, verlor ich sogar den Faden, während er da sprach. Mein Gehirn kehrte, stur wie der alte Gaul des Milchhändlers, immer wieder auf denselben Weg zurück – zum Code, so daß ich mich manchmal bewußt zwingen mußte, nicht wieder jene Richtung einzuschlagen, denn ich glaubte, wenn ich diesen Acker brachliegen ließe, würde dort vielleicht etwas von selbst aufkeimen. Solche Dinge passieren ja mitunter.
Mein zweiter Gesprächspartner war Tihamer Dill, eigentlich Dill junior, ein Physiker, dessen Vater ich gekannt hatte – aber das ist eine Geschichte für sich. Dill senior hatte noch an der Universität Berkeley Mathematikvorlesungen gehalten. Er war damals ein ziemlich bekannter Mathematiker der älteren Garde gewesen, der den Ruf eines glänzenden, weil ausgeglichenen und geduldigen, obzwar anspruchsvollen Pädagogen genoß – wieso ich in seinen Augen keine Anerkennung fand, kann ich nicht
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