Die Stimme des Herrn.
Dill ein paarmal auf Kongressen und Konferenzen, ich machte einen Bogen um ihn und tat, als erkennte ich ihn nicht. Einmal sprach er mich sogar von selbst an, höflich, ausweichend, und ich gab vor, ich müßte ausgerechnet jetzt schon gehen, eigentlich wollte ich gar nichts mehr von ihm – ich brauchte ihn gewissermaßen nur noch in meiner Einbildung. Als ich meine Hauptarbeit veröffentlicht hatte, ging ein Regen von Lobreden auf mich nieder, meine erste Biographie wurde geschrieben, ich wähnte mich kurz vor meinem unausgesprochenen Ziel, und eben da traf ich ihn … Gerüchte, daß er krank sei, waren zwar schon vorher bis zu mir gedrungen, aber ich hatte nicht vermutet, daß die Krankheit ihn derart verändert hatte. Ich sah ihn in einem großen Supermarkt. Er schob sein Wägelchen mit Konservendosen vor sich her, ich ging dicht hinter ihm. Gedränge umgab uns. Mit einemraschen, verstohlenen Blick erfaßte ich aufgedunsene, sackartige Wangen, und als ich ihn erkannte, durchzuckte mich zugleich etwas wie Verzweiflung. Das war ein zusammengeschrumpfter, dickbäuchiger Greis mit trüben Augen und halboffenem Mund, der in zu großen Überschuhen dahinschlurfte. Auf seinem Kragen taute Schnee. Er schob sein Wägelchen, selbst geschoben von der Menge, ich aber stürzte Hals über Kopf davon, entsetzt und nur von dem einen Gedanken beseelt, so rasch wie möglich hinauszugelangen, ja eigentlich zu türmen. In einem einzigen Augenblick hatte ich einen Gegner verloren, der vermutlich niemals erfahren hatte, daß er einer gewesen war. Noch eine ganze Zeit danach empfand ich eine innere Leere, als hätte ich einen lieben Menschen eingebüßt. Jene erregende Herausforderung, die mich gezwungen hatte, alle meine geistigen Kräfte anzuspannen, war schlagartig verschwunden. Höchstwahrscheinlich hatte es jenen Dill, der mich immer verfolgt und mir über die Schulter in meine zusammengestrichenen Manuskripte geschaut hatte, niemals gegeben. Als ich Jahre später seine Todesanzeige las, berührte sie mich nicht mehr. Aber es dauerte lange, bis jene offene Stelle in meinem Inneren vernarbt war.
Ich wußte, daß er einen Sohn hatte. Diesen Dill junior lernte ich erst beim Projekt kennen. Er hatte wohl eine ungarische Mutter gehabt, daher der merkwürdige Vorname, bei dem mir immer Tamerlan einfiel. Wenngleich der Junior, war er nicht mehr jung. Er gehörte zu den bejahrten Jünglingen. Es gibt Menschen, die gewissermaßen nur für ein Alter bestimmt sind. Baloyne zum Beispiel ist als gewaltiger Greis angelegt, dies scheint die ihm gemäße Form zu sein, der er mit Riesenschritten zustrebt, weil er weiß, daß er dann seine Energie nicht verlieren, sondern ihr sogar noch biblische Dimensionen verleihen und über allen Verdacht von Schwäche erhaben sein wird. Es gibt Menschen, die sich die Züge eines verantwortungslosen Reifens bewahren. So einer war Dill junior. Vom Vater hatte er das feierliche Gehabe, jede Geste war ausgefeilt: Er gehörte wahrlich nicht zu jenen Leuten, denen es auch nur eine Minute egal ist, was mit ihren Händen oder ihrem Gesicht passiert. Er war ein sogenannter ruheloser Physiker, ein bißchen so, wie ich ein ruheloser Mathematiker war, denn er wechselte immer wieder einmal das Gebiet, und eine Zeitlang hatte er in Andersons Biophysiker-Team gearbeitet. Wir kamen bei Rappaport einander näher, was mich einige Anstrengung kostete, denn Dill war mir nicht sympathisch, doch ich überwand mich, gewissermaßen dem Andenken von Dill senior zuliebe. Falls das nicht recht einleuchtet, kann ich nur beteuern, das tut es eigentlich auch mir nicht, aber so war es nun einmal.
Die Mehrfachspezialisten, bei uns manchmal »Universals« genannt, standen hoch im Kurs. Dill gehörte zu den Schöpfern der »Froschlaich«-Synthese. Aber Themen, die unmittelbar mit dem Projekt zusammenhingen, wurden bei Rappaports abendlichen Plaudereien zumeist ausgespart. Vor seiner Arbeit bei Anderson hatte Dill, vermutlich im Auftrag der UNESCO, einer Forschungsgruppe angehört, die Pläne auszuarbeiten hatte, um die Bevölkerungsexplosion aufzuhalten. Er erzählte mit Befriedigung davon. Es Waren auch ein paar Biologen, Soziologen, Genetiker und Anthropologen dabeigewesen, selbstredend auch Koryphäen in Gestalt von Nobelpreisträgern.
Einer von ihnen hatte den Atomkrieg für die einzige Rettung vor der Sintflut der Leiber gehalten. Sein Gedankengang war im übrigen sogar korrekt. Weder mit der Pille noch durch Überredungsversuche
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