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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Einmal traf ich ihn, wie er über große Pakete gebeugt stand, denen niedliche kleine, bunt glänzende Bücher mit märchenhaften Einbänden entquollen. Er hatte versucht, als »Generator für Mannigfaltigkeit«, die wir in den Konzeptionen vermißten, die Früchte der literarischen Phantasie auszunutzen – dieses besonders in den Staaten beliebten Genres, das durch eine hartnäckige Verkennung der Tatsachen Science Fiction genannt wird. Er hatte derlei Bücher vorher nie gelesen. Nun war er böse, ja sogar empört, weil sie ihn durch ihre Eintönigkeit enttäuscht hatten. »Außer Phantasie gibt es darin alles«, sagte er. Es handelte sich freilich um ein Mißverständnis. Die Autoren der pseudowissenschaftlichen Märchen bieten dem Publikum das, was es selber haben will: Banalitäten, Binsenweisheiten, Klischees, entsprechend verpackt und bizarr aufgemacht, so daß sich der Verbraucher einem harmlosen Staunen hingeben und zugleich unbehelligt bei seiner Lebensphilosophie bleiben kann. Wenn es in der Kultur einen Fortschritt gibt, dann vor allem einen begrifflichen, und den tastet die Literatur, besonders die phantastische, nicht an.
    Die Gespräche mit Dr. Rappaport bedeuteten mir sehr viel. Er hatte eine so zupackende und rücksichtslose Art zu formulieren, daß ich sie liebend gerne übernommen hätte. Die Themen unserer Diskussionen waren pennälerhaft: Wir disputierten über den Menschen. Rappaport war etwas wie ein »thermodynamischer Psychoanalytiker«, er behauptete zum Beispiel, eigentlich könne man alle grundlegenden Antriebskräfte menschlichen Handelns direkt aus der Physik ableiten – einer genügend weit verstandenen Physik natürlich.
    Der Destruktionstrieb ergäbe sich unmittelbar aus der Thermodynamik. Das Leben sei Betrug, ein Unterschlagungsversuch, das Bestreben, die ja doch unvermeidlichen und unerbittlichen Gesetze zu umgehen; von der übrigen Welt abgeschnitten, beschreite es sofort den Weg des Verfalls, diese schiefe Ebene führe zum Normalzustand der Materie, einem beständigen Gleichgewicht, das den Tod bedeute. Um fortzubestehen, müsse es sich von der Ordnung nähren, und da es diese – hochorganisiert – außerhalb des Lebens nirgendwo gebe, sei es dazu verdammt, sich selber aufzufressen; man müsse zerstören, um zu leben, sich von der Ordnung nähren, die insoweit Nahrung ist, als sie sich zunichte machen läßt. Nicht die Ethik, sondern die Physik legt diese Gesetzmäßigkeit fest.
    Als erster hatte das vermutlich Schrödinger bemerkt, aber er hatte, in seine Griechen verliebt, nicht gesehen, was man nach Rappaport als die Schande des Lebens, als immanenten Makel, bezeichnen konnte, der in der Struktur der Realität selbst verwurzelt war. Ich erhob Einspruchund berief mich auf die Photosynthese der Pflanzen. Sie zerstören andere lebende Systeme nicht oder müssen sie zumindest nicht zerstören, da sie sich von der Sonnenenergie ernähren, worauf mir Rappaport erwiderte, die ganze Tierwelt sei ein Parasit der Pflanzenwelt. Auch das zweite Merkmal des Menschen, jenes im übrigen, das er mit beinahe sämtlichen Organismen gemein hat – die Geschlechtlichkeit –, leitete er, auf seine Weise philosophierend, aus der thermodynamischen Statistik, und zwar aus deren informationstheoretischem Zweig ab. Das Chaos, das jedwedem Ordnungsversuch auflauere, habe zur Folge, daß die Information bei der Übermittlung immer eine Verarmung erfahre. Um dem tödlichen Rauschen entgegenzuwirken, um die errungene Ordnung vorübergehend zu verbreiten, müsse man unbedingt beständig die »Erbtexte« einander gegenüberstellen. Eine solche Konfrontation, dieses »Kollationieren«, das die Beseitigung von »Irrtümern« bezwecke, eben dies sei die Rechtfertigung und die Ursache für das Entstehen der Zweigeschlechtlichkeit. Also in der Physik der Informationsübermittlung, in der Übertragungstheorie seien die Urheber des Geschlechts zu suchen. Die Gegenüberstellung der Erbinformation in jeder Generation war eine Notwendigkeit, eine Bedingung, ohne die sich das Leben nicht hätte halten können, der gesamte biologische, algedonische, psychische, kulturelle Rest sei nurmehr eine Ableitung, der Wald der Konsequenzen, der dem harten, von den Gesetzen der Physik geformten Samenkorn entsprossen war.
    Ich wies ihn darauf hin, daß er auf diese Weise der Zweigeschlechtlichkeit Universalcharakter verleihe, sie zu einer Konstante des Alls mache. Er lächelte nur, nie antwortete er direkt. In einem anderen

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