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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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sagen. Gewiß, wir unterschieden uns im Denkstil, außerdem faszinierte mich die Ergodik, die Dill unterschätzte, aber ich hatte immer das Gefühl, daß es sich hier nicht allein um rein mathematische Dinge handelte. Ich ging mit meinen Einfällen zu ihm, zu wem hätte ich auch gehen sollen, und er löschte mich aus wie eine Kerze, beiläufig wischte er vom Tisch, was ich ihm hatte vorlegen wollen, und zog gleichzeitig meinen Kommilitonen Myers vor. Er behütete ihn wie eine sich entfaltende Rosenknospe.
    Myers trat in seine Fußstapfen, ich will übrigens zugeben, daß er in der Kombinatorik nicht schlecht war, die ich jedoch schon damals für einen absterbenden Zweig hielt. Der Schüler entwickelte den Gedanken des Meisters, also glaubte der Meister an ihn – und dennoch war es wohl nicht ganz so einfach. Vielleicht empfand Dill eine instinktive, sozusagen animalische Antipathie gegen mich? Oder ich war allzu aufdringlich, weil meiner selbst, meiner Möglichkeiten allzu sicher? Töricht war ich bestimmt. Ich begriff nichts, aber ich hegte nicht die Spur von Groll gegen Dill. Gewiß, Myers konnte ich nicht ausstehen, und ich erinnere mich noch an die stille, genußvolle Genugtuung, die ich verspürte, als ich ihm Jahre später zufällig begegnete. Er arbeitete als Statistiker bei irgendeiner Autofirma, ich glaube bei General Motors.
    Daß Dill von seinem Günstling so auf der ganzen Linie enttäuscht worden war, genügte mir jedoch nicht. Ich hattemir, nebenbei bemerkt, nicht seine Niederlage gewünscht, sondern daß er dazu bekehrt werden würde, an mich zu glauben. Und so gab es wohl nicht eine unter meinen größeren Jugendarbeiten, die ich zu Ende gebracht hätte, ohne mir vorzustellen, wie Dills Blick auf meinem Manuskript ruhte. Es kostete mich große Anstrengung zu beweisen, daß die Dillsche Variationskombinatorik nur eine unvollkommene Approximation des Ergodensatzes war! Wohl keine andere Sache, weder vorher noch danach, habe ich mit solchem Fleiß poliert! Und es ist keineswegs unsinnig, anzunehmen, daß die ganze Konzeption jener Gruppen, die später die Hogarthschen Gruppen genannt wurden, auf jene stille, mich unaufhörlich beflügelnde Leidenschaft zurückzuführen ist, mit der ich Dills Axiomatik durchforstete, und danach, als wollte ich noch etwas darüber hinaus tun, wenngleich es eigentlich gar nichts mehr dort zu tun gab, den Metamathematiker spielte, um jene ganze anachronistische Konzeption gewissermaßen von oben, im Vorbeigehen zu betrachten, obwohl sich manch einer von denen, die mir schon damals geistigen Höhenflug prophezeiten, sich über meine so marginalen Interessen wunderte.
    Natürlich hatte ich niemandem gestanden, welches der eigentliche Motor, die verborgenen Motive meiner Arbeit waren. Was eigentlich erhoffte ich mir? Ich rechnete doch nicht damit, daß Dill mich nun gebührend schätzen, mich wegen Myers um Entschuldigung bitten, daß er zugeben würde, wie sehr er sich getäuscht hatte. Der Gedanke an einen Canossa-Gang dieses sperberartigen und gleichsam alterslosen, rüstigen Greises war zu absurd, als daß er mir auch nur für einen Moment in den Sinn kommen konnte. Ich stellte mir also gar nichts vor, was reale Gestalt besessen hätte. Dazu war die Geschichte schon zu intim und zu begrenzt. Mitunter liegt jemandem, der von allen geschätzt, geachtet, ja geliebt wird, tief im Inneren am meisten an einem, der gleichgültig außerhalb des Kreises der Apologeten steht, selbst wenn er in den Augen der Welt vielleicht zweitrangig und überhaupt nicht wichtig ist.
    Wer war schließlich Dill senior? Ein normaler Mathematikdozent, wie es sie in den Staaten Dutzende gibt. Aber solch ein verstandesmäßiges Herangehen würde mir nicht geholfen haben, zumal ich mir seinerzeit nicht einmal selbst den Sinn und Zweck meiner von Ehrgeiz diktierten Idiosynkrasien eingestand. Doch wenn ich die frischen, gleichsam gebügelten und in neuem Glanz erstrahlenden Exemplare meiner Arbeiten aus der Druckerei bekam, durchlebte ich hellseherische Augenblicke, in denen mir der hagere, bohnenstangenartige Dill erschien, steif, mit seinem Gesicht, das dem Gesicht Hegels auf den Bildern glich, Hegel aber konnte ich nicht ausstehen, ich konnte ihn nicht lesen, weil er sich so sicher war, daß das Absolute selbst aus ihm spräche, zum höheren Ruhme des preußischen Staates. Hegel hatte, so meine ich jetzt, nichts damit zu tun – ich hatte nur eine andere Person durch ihn ersetzt.
    Von weitem sah ich

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