Die Stimme des Herrn.
erbringen, den Sie erwähnten, bezeugt einzig und allein, daß der Brief nicht in einer Sprache verfaßt wurde, die der gleichen Kategorie angehört wie die, deren wir uns jetzt bedienen. Daraus, daß wir außer dem genetischen Code und der natürlichen Sprache keine anderen kennen, folgt noch nicht, daß es sie nicht gibt. Ich nehme an, es gibt solche ›anderen Sprachen‹, und in einer davon wurde der ›Brief‹ verfaßt.«
»Und wie sieht diese ›andere Sprache‹ nun aus?«
»Das kann ich Ihnen nur sehr allgemein zu verstehen geben. Vereinfacht ausgedrückt, ›verständigen sich‹ die Organismen bei der Evolution, indem sie bestimmte Sätze ›äußern‹, die Genotypen darstellen, und die ›Worte‹ darin entsprechen den Chromosomen. Aber wenn ein Wissenschaftler Ihnen das Strukturmuster eines Genotyps vorführt, dann haben Sie es schon nicht mehr mit einem ›kulturfreien Code‹ zu tun, weil dieser Wissenschaftler den genetischen Code in die Sprache von Symbolen, sagen wir von chemischen Symbolen, übersetzt hat. Um also sofort zum Kern der Sache zu kommen: Wir vermuten bereits, daß eine ›kulturfreie Sprache‹ etwas in der Art ist wie Kants ›Ding an sich‹. Wir können weder einen solchen Code noch ein solches Ding herstellen. Das, was aus der Kultur stammt, und das, was ›von der Natur‹ stammt, mit anderen Worten ›von der Welt selbst‹, erscheint, wenn wir es mit einer beliebigen Aussage zu tun haben, als eine aus zwei Komponenten zusammengesetzte ›Mischung‹. In der Sprache der Merowinger und in der Sprache der politischen Losungen der republikanischen Partei ist die prozentuale Beimengung von ›Kultur‹ sehr erheblich, und das, was nicht abhängig ist von der Kultur, also jener ›direkt aus der Welt‹ stammende Bestandteil, tritt dort in geringer Menge auf. In der Sprache, deren sich die Physik bedient, ist es sozusagen umgekehrt: Es ist viel ›Natürliches‹ darin enthalten und wenig von dem, was von der Kultur geformt worden ist. Doch der Zustand einer vollkommenen, ›kulturfreien‹ Reinheit läßt sich grundsätzlich nicht erreichen. Die Vorstellung, man könne, wenn man einer anderen Zivilisation in einem Umschlag Atommodelle schickt, aus solch einem ›Brief‹ alle kulturbedingten Beimengungen eliminieren, diese Vorstellung basiert auf einer Täuschung. Die Beimengung läßt sich erheblich verringern, doch niemand im ganzen Kosmos kann sie irgendwann restlos verdrängen.«
»Der ›Brief‹ ist in einer ›kulturfreien Sprache‹ abgefaßt, und dennoch besitzt er einen Anteil der Kultur der Absender? Ja? Darin besteht die Schwierigkeit?«
»Darin besteht eine der Schwierigkeiten. Die Absender unterscheiden sich von uns sowohl in ihrer Kultur als auch in ihrem, sagen wir einmal, naturwissenschaftlichen Wissen. Deshalb liegt die Schwierigkeit mindestens auf zwei Ebenen. Ihre Kultur erraten können wir nicht – weder heute noch, wie ich meine, in tausend Jahren. Sie müssen das sehr genau wissen. Und so haben sie uns eine Information geschickt, zu deren Entschlüsselung man ihre Kultur nicht zu kennen braucht, fast ganz sicher nicht.«
»Dieser kulturelle Faktor dürfte also nicht hinderlich sein?«
»Senator, wir wissen nicht einmal, was uns eigentlich am meisten behindert. Wir haben den ganzen ›Brief‹ auf seine Komplexität hin taxiert. Sie entspricht im großen und ganzen der Klasse uns bekannter Systeme – gesellschaftlicher und biologischer. Wir besitzen keinerlei Theorie über gesellschaftliche Systeme, deshalb waren wir gezwungen, als Modelle, die wir an den Brief ›anlegten‹, Genotypen oder nicht die Genotypen selbst, sondern vielmehr jene mathematische Apparatur zu verwenden, die man zu ihrem Studium benutzt. Wir fanden heraus, daß das Objekt, das dem Code noch am meisten ähnelt, eine lebende Zelle ist oder auch ein ganzer lebender Organismus. Daraus folgt durchaus nicht, daß der ›Brief‹ wirklich eine Art Genotyp ist,sondern nur, daß von allen uns bekannten Dingen, die wir des Vergleichs halber an den Code ›anlegen‹, der Genotyp das geeignetste ist. Begreifen Sie, wie gewaltig das Risiko ist, das diese Situation mit sich bringt?«
»Nicht sonderlich. Das Risiko kann doch wohl nur darin bestehen, daß euch, falls es nun doch kein Genotyp ist, die Entschlüsselung nicht gelingt.«
»Wir benehmen uns wie jemand, der einen verlorenen Gegenstand nicht überall sucht, sondern nur unter einer brennenden Laterne, weil es dort hell ist. Wissen
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