Die Stimme des Nichts
Stunde, jeder Tag, den sie mit Philip Lynx verbrachte, war eine Stunde, ein Tag weniger mit Bill Ormann.
Zuerst fand er sich damit ab. Dann wurde er allmählich ärgerlich. Am Ende des Monats war er wütend und enttäuscht. Wütend, weil Clarity ihn kontinuierlich abwies zugunsten von Lynx, enttäuscht, weil er ums Verrecken nicht erkennen konnte, was sie in diesem Kerl sah. Er war größer als Ormann, aber nicht viel. Er war schlanker, aber nicht muskulös und ganz gewiss nicht stattlich. Seine Herkunft und Einkünfte waren ungewiss, denn er hatte nur geäußert, er sei Student, der von familiärer Unterstützung lebe. Also auch keine brillante Zukunft, versicherte sich Ormann. Lynx war eindeutig intelligent, aber kaum genial, noch war er unterhaltsam oder amüsant. Ganz im Gegenteil war er im Beisein anderer sehr reserviert.
Also blieb die Frage bestehen: Was fand Clarity an ihm? Was zog sie so stark zu ihm hin, dass sie die Einladungen des stellvertretenden Vorsitzenden Ormann, mit ihm zum Abendessen, ins interaktive Kino, zum Strand zu gehen, beständig ausschlug? Einen quälenden Moment lang vermutete er, Flynx könne ein spektakulärer Liebhaber sein, doch Beobachtung und subtile Nachfrage wischten diese Vorstellung bald beiseite. Woran lag es dann? Ormann befand, dass sich das nur auf einem Wege herausfinden ließ.
Er würde sie direkt fragen.
Sie war überrascht, aber nicht bestürzt, ihn auf der Couch im zehnten Stock sitzen zu sehen, als sie am Freitag von der Arbeit kam. Um ihre Beziehung zu vereinfachen, hatten sie einander vor ein paar Monaten die Sicherheitscodes ihrer Wohnungen verraten. Clarity war nicht auf die Idee gekommen, ihren Code zu ändern, seit Flinx zurückgekommen war.
In letzter Zeit war damit zu rechnen gewesen, dass Bill mit zwei kalten Drinks und einem warmen Abendessen auf sie wartete, um sie mit einem breiten Lächeln und einem Kuss zu begrüßen. Heute Abend gab es nur die Drinks. Man brauchte nicht telepathisch begabt zu sein, um zu spüren, dass er aufgebracht war. Sein innerer Zustand war aber nicht so ernst, dass er Scrap beunruhigte. Sobald sie durch die Tür war, erhob sich der Minidrache von ihrer Schulter und flog zu seinem Lieblingsplatz auf den dekorativen Aerogel-Perlen an der Rückseite ihres Wohnzimmers, das Ausblick auf den See bot.
»Guten Abend, Bill.« Sie nahm den Drink, den er zubereitet hatte – er war wie immer perfekt gemixt –, und setzte sich in einen der Sessel, die der Couch gegenüberstanden. Das allein war schon bemerkenswert, fand er. Vor dem Auftauchen dieses Philip Lynx hatte sie sich immer neben ihn gesetzt. »Du hast mir nicht gesagt, dass du heute Abend kommst.«
Er nahm sein selbstkühlendes Glas in die Hand, trank aber nicht davon. »Ich hatte Angst, du würdest sagen, dass du beschäftigt bist. Deinen lang vermissten Freund trösten musst. Ich persönlich finde, dass er inzwischen genug getröstet sein sollte. Meinst du nicht auch?«
Sie lächelte. »Du bist eifersüchtig, Bill.«
Er setzte sein Glas auf den Wirbel gesponnener Silikatfäden, aus dem der Tisch zwischen ihnen bestand. Die kleine Fontäne in der Mitte sprudelte mit koloriertem Elan. »Das kannst du laut sagen. Wer ist dieser Junge, dass er so viel von deiner Zeit in Anspruch nehmen darf? Von unserer Zeit. Du hast mir gesagt, dass ihr auf Longtunnel gar nicht so viel zusammen gewesen seid. Warum dann jetzt dieser ausgedehnte Kontakt? Ich meine, du hast ihm schon mehr als genug die Hand gehalten.«
Sie nippte an ihrem Drink, einer hellen Flüssigkeit, die an Pfirsiche und Barru, Rum und verschnittenen Eloqueur erinnerte. Es brannte in ihrer Kehle. Ähnlich wie diese unerwartete Konfrontation. Es war klar, dass sie ihn heute nicht mit einem Lächeln und einem Kuss loswerden würde. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Scrap. Egal, was Bill Ormann sagte, der Minidrache würde ihr mitteilen, was der Mann in Wirklichkeit fühlte.
»Ich habe es dir doch schon gesagt, Bill, Philip ist nur ein Freund. Er ist ein komplizierter Mensch, der viel durchgemacht hat. Er braucht jemanden, der ihm zuhört, und er hat nicht viele Freunde.«
Ormann brummte wenig mitfühlend. »So maulfaul wie er ist, überrascht mich das nicht.« Er blickte sie ein wenig strenger an. »Oder ist er redseliger, wenn er mit dir allein ist, Clarity? Was tust du, um seine Zunge zu lösen?« Er stellte die Frage halb lächelnd, doch Scrap hob den Kopf und drehte sich in seine Richtung.
»Auch das habe ich dir
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