Die Strafe - The Memory Collector
einem leichten, rot und weiß bemalten Schlagbaum und einem Automaten auf der Fahrerseite geschützt, in den man die Zutrittskarte steckte. Sie wusste nicht, ob der Schlagbaum aus Holz oder Stahl war, ob er splittern würde, wenn sie ihn rammte, oder sich womöglich mit hundertvierzig Stundenkilometern durch die Windschutzscheibe bohrte.
Mit hundertfünfzig brach sie durch die Schranke. Metall
kreischte. Klirrend schleuderte der Schlagbaum zur Seite und schlug Funken wie ein Schleifrad. Dann war sie auf dem Flugfeld.
»Ist Seth getroffen?«, fragte sie.
Mistys Stimme klang gequetscht. »Schulter, glatter Durchschuss.«
Jo raste an dem vornehmen, hellerleuchteten Terminal eines Unternehmens vorbei. Die Fenster blickten auf das Rollfeld, aber in dem Gebäude war keine Menschenseele. Sie passierte parkende Autos und einmotorige Flugzeuge.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Calder folgen würde. Nein, ausgeschlossen. Nicht einmal sie war so verrückt, wild um sich ballernd über die aktive Landebahn eines großen Flughafens zu brettern. Jo blickte in den Spiegel.
Kanan beobachtete den Tahoe, der den Schlagbaum wegfegte wie einen Bratenheber. An den Rahmen des Schiebedachs gestützt, legte er das Gewehr an. Plötzlich merkte er, dass der Pick-up langsamer wurde.
Er beugte sich hinunter zu Riva. »Fahr ihnen nach.«
Erschrocken blickte sie auf. »Nein.«
»Fahr, sag ich.«
»Raus aufs Flugfeld? Das ist doch Wahnsinn.«
Warum zog sie auf einmal ein Gesicht, als wäre alles verloren? Vor dem zerstörten Schlagbaum bremste sie weiter ab und schaute sich um.
In der Ferne erkannte er auf dem Asphalt vor einem privaten Hangar den Jet von Chira-Sayf. Die Treppe war heruntergelassen,
Lichter brannten. Er stand für den baldigen Abflug bereit.
Er griff hinten in den Hosenbund und zog die HK. Mit der linken Hand zielte er auf Rivas Kopf.
»Ich lass die Mörder meiner Familie nicht entkommen. Fahr.«
Jo starrte in den Rückspiegel und wartete darauf, dass der Pick-up wendete und verschwand. Tatsächlich blieben die Scheinwerfer zurück. Sie hatten den Durchgang zum Flugfeld nicht passiert.
Doch plötzlich beschleunigte der Pick-up wieder.
»Verdammt, sie folgen uns«, rief sie. »Ich fass es nicht.«
So viel würde Kanan bei der Verfolgung der vermeintlichen Entführer nie riskieren, nicht einmal, wenn er es für möglich hielt, dass sie entkamen. Oder doch?
Nein. Mit dieser Unerbittlichkeit würde er nur Jagd auf sie machen, wenn er davon überzeugt war, dass sie seine Familie getötet hatten. Er würde alles daransetzen, Seth und Misty zu rächen. Er würde jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte, und kämpfen bis zum letzten Blutstropfen.
Sie raste vorbei an Hangars und Privatjets. Dummerweise gab es auf dieser Seite des Flughafens keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Sie passierte die Maschine von Chira-Sayf. In der Ferne, jenseits des dunklen Streifens aktiver Start- und Landebahnen, lagen die kommerziellen Terminals.
Wieder blickte sie in den Spiegel. Der Pick-up war hinter ihr auf dem Flugfeld und holte auf.
Sie sterben am Samstag. Aber Ian Kanan hatte die Fähigkeit verloren zu wissen, welcher Tag heute war.
»Misty, er glaubt, dass ihr tot seid.«
»O Gott«, entfuhr es Misty. »Wir müssen was unternehmen.«
Das Flughafengelände erstreckte sich als riesige Leere zwischen ihnen und der Sicherheit. Die Start- und Landebahnen waren über drei Kilometer lang. Die Terminals lagen bestimmt siebenhundert Meter entfernt. Jeder Versuch, die Bahnen zu überqueren, glich einem Himmelfahrtskommando.
Die weißen Scheinwerfer einer herabschwebenden Linienmaschine erleuchteten den Himmel. Kreischend passierte der Jet die Landeschwelle und setzte auf. Die Schubumkehrer dröhnten, als sie mit weit über hundertsiebzig Stundenkilometern vorbeizischte.
Hinter ihr wurden die Lichter des Pick-ups heller.
Jo atmete tief durch, dann riss sie das Steuer herum und preschte quer über eine Zufahrtsrampe auf die westliche Landebahn zu.
Der Pick-up folgte ihr.
Jo standen die Haare zu Berge, als sie direkt über die Landebahn fuhr. Sie jagte über die Mittellinie, die von grünen und roten Lichtern in psychedelische Primärfarben getaucht wurde. Verzweifelt heftete sie den Blick auf die Terminals.
Flugticket? Wozu? Ausweis? Hab ich nicht. Die Koffer hab ich nicht selbst gepackt, dafür hab ich einen vollen Benzintank und jede Menge Munition dabei, auch mein Haargel und den ganzen anderen Scheiß habe
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