Die Strafe - The Memory Collector
Vielleicht hatte sie sich in diesen undurchdringlichen Panzer zurückgezogen, um sich psychisch vor Chaos und Angst zu schützen.
Doch mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs Jos Argwohn. »Ich weiß, dass Sie sich große Sorgen um Ian machen. Aber es sind schon mehrere Menschen gestorben.«
»Gestorben? Wer?«
»Zwei Leute, die gestern in derselben Maschine gelandet sind wie er. Außerdem hat mindestens ein anderer Passagier die gleiche Gehirnschädigung wie Ian. Die Substanz, die Ihren Mann verletzt hat, könnte ansteckend sein.«
Mit ungläubiger Miene wich Misty zurück. »Nein.«
»Und heute Morgen wurde am Jachthafen ein Mann erstochen. Er wurde in der Nähe der Somebody’s Baby aus dem Wasser geborgen.«
»Was?«
»Die Polizei hat Haftbefehl gegen Ian erlassen.«
»Die Polizei glaubt, dass Ian jemanden getötet hat? Nein, das … aber er ist krank. Er ist doch nicht verantwortlich für seine Taten.«
Wow. Misty wehrte sich nicht gegen die Vorstellung, dass ihr Mann jemanden erstochen haben könnte. Nicht einmal versuchsweise.
»Wenn er es überhaupt war«, fügte Jo hinzu.
»Genau, wenn er es überhaupt war.«
Aus der Küche wehte der Gestank von saurer Milch. Mistys Benehmen roch genauso schlecht.
»Wer war das Opfer?«, fragte sie schließlich.
»Ein gewisser Ken Meiring. Sagt Ihnen der Name was?«
Mistys Blick blieb leer. Sie blinzelte und neigte den Kopf zur Seite, als wollte sie einen störrischen Halswirbel zum Knacken bringen. »Nein, keine Ahnung, wer das ist.«
»Wirklich? Sind Sie sicher? Ian hat heute Morgen das Auto seines Bruders gestohlen, einen Navigator. Der Wagen wurde danach am Jachthafen beobachtet. Und heute Nachmittag hat er damit auf mich Jagd gemacht.«
Mistys Haltung veränderte sich. Einen Moment lang glaubte Jo, sie wolle sich auf sie stürzen.
»Sie haben Ian heute Nachmittag gesehen?«
»Ich habe den Wagen gesehen, den er gestohlen hat. Er ist auf der Valencia Street auf mich zugeschossen. Dann hat er sich an Alecs Fersen geheftet.«
In Mistys Augen blitzte es auf. »Was will er von Ihnen?«
»Keine Ahnung. Misty, die Situation ist kritisch und wird immer schlimmer. Menschenleben sind in Gefahr. Bitte verschweigen Sie mir nichts, was uns weiterhelfen könnte.«
»Wo ist Ian hin? Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
»Jetzt hab ich es gesagt.«
»Wo ist Alec?«
»Ich weiß es nicht - wir wurden getrennt. Ich kann ihn nicht erreichen, weder auf dem Handy noch im Büro noch zu Hause. Gibt es eine andere Möglichkeit?«
»Nein. Moment.« Sie hob die Hand. »Lassen Sie mich nachdenken.«
Was immer Misty ihr hier vorspielte, sie tat es ausgesprochen schlecht. Die Kälte im Haus drang durch Jos Kleider.
»Warum haben Sie mir nicht erzählt, dass Alec Ians Bruder ist?«
»Sie hätten mir sagen müssen, dass Sie Ian gesehen haben. Sie hätten mich anrufen müssen.« Mistys Ton war eisig.
»Das habe ich. Vielleicht sollten Sie mal Ihre Mailbox abhören.«
Draußen vor dem Küchenfenster zog sich der Dunst zu schwerem Nebel zusammen. Die Straßenlaternen schimmerten wie durch Watte. Nach dem schockierenden Anblick der Einbrecher in ihrem Haus standen Jos Nerven immer noch unter Strom. Hier stimmte doch irgendwas nicht. Wenn auf ihrer Schwelle eine Polizeimitarbeiterin aufgetaucht wäre und sie aufgefordert hätte, sich mit ihrem Kind in Sicherheit zu bringen, hätte sie nicht lange im Flur herumgestanden, um mit der Besucherin zu streiten. Sie hätte sich schleunigst aus dem Staub gemacht.
»Misty, Sie sind total am Ende. Irgendwas nagt doch an Ihnen. Erzählen Sie mir, was los ist.«
Nervös knetete Misty an einem Anhänger herum, den sie an einer goldenen Halskette trug. Zwei springende Golddelfine um einen blauen Saphir.
Seit ihrer ersten Begegnung hatten Mistys Reaktionen Jo vor ein Rätsel gestellt. Nachdem sie vom Zustand ihres Mannes erfahren hatte, schien sie am Boden zerstört. Doch statt bei ihm in der Notaufnahme zu bleiben, hatte sie in Panik die Flucht ergriffen. Jo hatte angenommen, dass sie vor den schlimmen Nachrichten floh, dass sie vor der vernichtenden
Diagnose davonlaufen wollte. Doch nun vermutete sie, dass etwas völlig anderes dahintersteckte. Sie wusste nicht, was - nur dass Misty Kanans Verhalten äußerst befremdlich war.
»Ich will bloß, dass er nach Hause kommt. Er ist mein Ein und Alles.«
»Natürlich«, antwortete Jo.
Den Delfinanhänger zwischen den Fingern, wandte sie sich dem Wohnzimmer zu.
Jo folgte ihr.
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