Die Strafe - The Memory Collector
»Warum macht Ian Jagd auf seinen Bruder?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ehrlich gesagt, glaube ich Ihnen das nicht.«
Misty schaltete eine Tischlampe ein. Die Ikea-Möbel wirkten trist in dem dämmerigen Licht. In dem Korb neben dem Polstersessel lag die zerknitterte Wäsche. Auf dem Bügelbrett in der Ecke wartete noch immer das Bügeleisen auf seinen Einsatz. Misty hatte sich bis zum Exzess in die Sorge um ihren Mann hineingesteigert, der Rest ihres Lebens war dabei praktisch zum Erliegen gekommen.
Sie nahm ein gelbes Kissen vom Boden, schüttelte es auf und schleuderte es auf die Couch.
»Werden Sie von jemandem unter Druck gesetzt?«, fragte Jo.
»Nein.«
»Von Chira-Sayf?«
Misty bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich.«
Geschäftig eilte sie hin und her, um die Zeitungen der letzten Woche einzusammeln und sie zu einem Stoß auf dem Tisch zu ordnen.
Jo machte eine beruhigende Geste. »Halten Sie doch mal eine Minute still.«
Misty schnappte sich die TV-Fernbedienung und warf sie auf den Stapel. Sie rutschte über die oberste Zeitung, und der ganze Haufen glitt wieder zu Boden.
Jo streckte die Hand aus. »Setzen Sie sich doch.«
Misty griff nach ihrem Ehering und drehte ihn nervös hin und her. »Niemand setzt mich unter Druck. Und ich weiß auch nicht, was los ist.« Ihre Stimme war brüchig. »Alec und Ian haben ein schwieriges Verhältnis. Aber das heißt nicht, dass Ian seinen Bruder umbringen will.«
Der Ehering passte zum Anhänger. Ein von Delfinen umrahmter Saphir.
Als sie Jos Blick bemerkte, ließ Misty den Ring los. Stattdessen zog sie ein T-Shirt aus dem Wäschekorb. Ein graues Männershirt von Russell Athletic. Sie strich es glatt und betrachtete es voller Zärtlichkeit.
»Misty? Wo ist Seth?«
Verwirrt runzelte Misty die Stirn. Sie drückte das Hemd an die Brust, als wollte sie es schützen. »Bei einem Freund.«
»Weiß er, was los ist?«
»Verzeihung, aber das geht Sie nichts an.«
Jo hatte Mühe, einen neutralen Ausdruck zu wahren.
Misty spannte den Kiefer an und zog die Schultern nach oben. Sie warf das Shirt zurück in den Wäschekorb. »Entschuldigen Sie mich bitte.«
Steif stakste sie in die Küche. Jo hörte, wie sie ein Glas aus einem Schrank holte. Kurz darauf wurde der Hahn aufgedreht.
Jo saß da und lauschte auf das Ticken einer Uhr irgendwo
im Haus. Seit sie Misty aufgefordert hatte, mit ihrem Sohn abzuhauen, waren drei Minuten vergangen. Entweder war Misty zu dumm, um Angst zu empfinden, oder sie war eingeweiht.
Auf jeden Fall konnte Jo nicht mehr mit nützlichen Informationen von ihr rechnen. Sie musste Amy Tang bitten, ein bisschen den bösen Cop zu spielen. Nachdenklich stand sie auf.
Zu ihren Füßen verstreut lagen Zeitungsteile, Beilagen, Hochglanzwerbung und Gutscheine. Doch die eine Hochglanzseite, die unter dem Sofa hervorlugte, stammte nicht aus einer Zeitung. Es war die Ecke eines zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter großen Fotos. Jo bückte sich und hob es auf.
Es war ein Hochzeitsbild, auf dem unten in erhabener Schrift zu lesen war: Misty & Ian, für immer. Es musste aus dem Bücherregal gefallen und unter die Couch gerutscht sein.
Die Kanans hatten in einem Park geheiratet. Ian wirkte jung, durchtrainiert und attraktiv in seinem blauen Anzug. Sein Eisblick war souverän. Schon mit zwanzig hatte er anscheinend die außergewöhnliche Fähigkeit besessen, Menschen zu durchschauen. Er machte einen geradezu unverschämt entspannten Eindruck. Er hatte den Arm um Misty gelegt.
Einen Gardenienstrauß in der Hand, lehnte sie sich lächelnd an ihn. Sie trug ein hauchzartes Hochzeitskleid und war barfuß. Ihr Haar war mit Schleierkraut geschmückt. Sie sah aus wie achtzehn.
Und es war nicht die Frau in der Küche.
Mit klopfendem Herzen studierte Jo das Foto. Sie musste sich täuschen.
Nein.
Das Mädchen auf dem Hochzeitsbild hatte große Ähnlichkeit mit der Frau, die sich Misty nannte. Verblüffende Ähnlichkeit sogar. Die gleiche elfenhafte Figur, die gleiche zarte Haut, das gleiche glatte, karamellfarbene Haar. Und der gleiche Anhänger am Hals mit den zwei hüpfenden Delfinen um einen Saphir. Aber das Mädchen auf dem Foto hatte warme Augen und ein freundliches Lächeln, nicht die Kälte und Bissigkeit der Frau, die Jo kennengelernt hatte. Außerdem hatte Misty ein keltisches Tattoo am rechten Arm.
Der Nebel draußen war zu einem dicken Brei geronnen. Jos Gedanken verkürzten sich auf ein einziges
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