Die strahlenden Hände
ist alles.«
So einfach klang das, was so ungeheuerlich war. Doerinck verbrachte, während er ruhelos neben der fest schlafenden Ljudmila lag, eine halbe Nacht damit, das bisherige Leben seiner Tochter noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen, wie in einem Rollbildbetrachter, den man bei besonders interessanten Momenten anhalten kann, um das Bild genußvoll oder erschrocken länger zu studieren.
Da war Corinnas Geburt, eine schwere Geburt. Ljudmila, ihre Mutter, hatte fast zwanzig Stunden in den Wehen gelegen, und der Arzt schwankte zwischen einem Kaiserschnitt oder einer Zange, um dieser Qual ein Ende zu bereiten. Als er zu Doerinck, der schweißgebadet neben seiner Frau am Kreißbett saß, sagte: »Wir werden in einer Stunde doch einen Kaiserschnitt machen müssen …«, stieß Ljudmila einen hellen, bis in die Knochen fahrenden Schrei aus – und Corinna kam zur Welt.
Wie alle Kinder war sie dann völlig normal aufgewachsen, hatte im Garten gespielt, zankte und schlug sich mit anderen Kindern, bekam ein Dreirad, später ein richtiges Fahrrad, Rollschuhe, Schlittschuhe. Doerinck hatte im Garten ein Turngerüst mit Kletterstange, Schaukel und Reck aufgestellt, und nichts deutete darauf hin, daß die kleine Corinna etwas Besonderes sein könnte.
Doch ja! Jetzt, im Rückblick, erkannte Doerinck ein Phänomen, auf das er früher nie geachtet hatte: Bei den vielen Wanderungen durchs Münsterland, die sie machten, pflückte man auch Blumen. Und während der Strauß, den Ljudmila trug, schon welk zu Hause ankam, waren Corinnas Blumen noch immer frisch und dufteten wie eben erst erblüht. Und sie blieben auch in der Vase tagelang noch so, weil Corinna – schon vom Krabbelalter an in Blüten verliebt – die Blumen jeden Tag streichelte, als ob es kleine Tiere seien.
Später, in der Schule, zeigte es sich bereits, daß sie doch anders war als die übrigen Kinder ihres Alters. Nur: Welcher Vater nimmt so etwas wahr? Sie war eine stille Schülerin, saß in ihrer Bank, beobachtete die Umwelt mit großen schwarzen Augen, aber meldete sich selten zu Wort. Nur, wenn die Lehrerin sie examinierte, wußte sie ohne Zögern alles, und auf die Frage: »Weshalb meldest du dich denn nicht?« antwortete sie mit einer merkwürdigen Logik: »Warum? Ich weiß doch alles.«
»Corinna ist die Beste in der Klasse«, sagte denn auch ein paarmal die Lehrerin zu ihrem Kollegen Doerinck, »aber sie macht im Unterricht nicht mit. Sprich doch mal mit ihr, Stefan. Sie sitzt da, sieht mich mit ihren großen Augen an; und manchmal denke ich: Was geht jetzt in dem kleinen Kopf vor? Es scheint fast so, als wollte sie sagen: Was soll ich hier?«
Es hatte dann ein Gespräch zwischen Vater und Tochter gegeben, und als er sie eindringlich ermahnte, in der Klasse mitzumachen, erklärte sie nur: »Fräulein Dassel muß zum Arzt gehen. Sie hat was im Bauch.«
»Wer sagt das?« hatte Doerinck gefragt.
»Keiner. Aber ich sehe es.«
Doerinck hielt das für Unsinn. Für einen Versuch, vom Thema abzulenken. Und er vergaß es. Ein Vierteljahr später wurde Fräulein Dassel operiert: Eine große Zyste hatte sich an der Zervix gebildet. Doch da dachte Doerinck schon längst nicht mehr an die Warnung der kleinen Corinna.
Jetzt, nach zweiundzwanzig Jahren, in dieser langen schlaflosen Nacht, fiel ihm das alles wieder ein, und es erschreckte ihn maßlos.
Vor sechzehn Jahren, Corinna besuchte das Gymnasium, war sie noch immer ein stilles Mädchen, doch wurden ihre Klassenarbeiten durchweg mit ›sehr gut‹ bewertet. Sie war die Beste der Klasse, ein Intelligenzknoten, wie der Klassenlehrer zu seinem Volksschulkollegen Doerinck sagte. So etwas erfüllt einen Vater mit Stolz und lenkt ihn natürlich ab. Nur der Mathematik-Studienrat hatte etwas Ungewöhnliches festgestellt und berichtete es Doerinck bei einem Elternsprechtag:
»Da ist jetzt schon dreimal etwas Seltsames passiert: Ich schreibe für die Klassenarbeit immer die mathematischen Aufgaben an die Tafel. Es ist für die Schüler ein glattes Zweistundenpensum, wenn man alles exakt durchrechnet. Aber Corinna gibt ihr Heft erstaunlicherweise schon nach einer halben Stunde ab – mit den richtigen Lösungen! Und für mich ist das Unerklärliche daran: Sie schreibt bei keiner Aufgabe den Rechenweg hin, sondern einfach nur Aufgabe und Ergebnis. So wie bei 2 x 2 = 4! Ich frage Corinna: ›Wie bist du zu dieser Lösung gekommen?‹ Und sie antwortet: ›Sie war einfach da.‹ – So etwas ist glatt
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