Die strahlenden Hände
Beruf verlangte. Keine Gewerkschaft kümmerte sich darum, und gäbe es dafür eine, wäre sie hilflos. Wer kann vorher abschätzen, wie lange eine komplizierte Operation dauert? Drei Stunden oder sechs Stunden? Wer kann Komplikationen wie Blutungen oder Risse vorhersehen? Woanders weiß man: Gleich klingelt es. Arbeitsschluß. Schichtwechsel. Und die Gewerkschaften rufen nach der 35-Stunden-Woche, weil der Arbeiter an der Blechstanze überfordert ist. Und auch die Beamten fühlen sich total abgeschlafft, wenn es auf den Nachmittag zugeht. Nur bei einem Arzt ist es selbstverständlich, daß er keine Uhr kennt, daß er Tag und Nacht bereit ist und daß er nach vierzehn Stunden am OP-Tisch noch immer die Kraft hat, das Leben des Menschen zu retten, der unter seinen Händen liegt. Eine Blechplatte kann sich ruhig mal verbiegen – eine schlechte Gefäßnaht bedeutet den Tod.
Nein, es war auch nicht Dr. Willbreits Art, jeden Patienten im Gedächtnis zu behalten. Trotzdem ging ihm das Telefonat mit Corinna Doerinck nicht aus dem Kopf. Es beschäftigte ihn den Rest des Tages über, nur von der Abendvisite unterbrochen; und als er wieder in seinem Zimmer saß und nun eigentlich hätte nach Hause fahren können, in seinen Bungalow am Stadtrand von Münster, wo seine in der Münsteraner Gesellschaft so geschätzte Frau bestimmt wieder ein Dutzend Freunde bewirtete – da suchte er aus dem Berg von neuen Untersuchungsberichten die Akte ›Doerinck, Ljudmila. Hellenbrand. 61 Jahre, verheiratet, ein Kind‹ heraus. Der Aktendeckel trug einen kleinen roten Strich. Willbreit hatte das eingeführt. Mit einem Blick sah man schon von außen, was es war. Rot bedeutete Ca. Karzinom. Krebsgeschwulst.
Er klappte die Akte auf, las den Untersuchungsbericht, die Laborwerte, die Röntgenauswertung und die Eintragung: Ab 10. zur Einlieferung bereit.
Die Russin, erinnerte er sich. Diese erstaunliche Frau, die mit einundsechzig noch aussah wie eine Vierzigerin. Mit mandelförmigen Augen und schwarzen Locken. Hatte ihre Haut nicht ins Bräunlich-Olive geschimmert? Ja, und nach der Untersuchung, das war es, hatte er sogar gedacht: Welch eine Hundsgemeinheit, daß so ein Körper nun zerstört wird! Und er hatte seinen ganzen Haß gegen diese Krankheit Krebs wieder in sich gespürt und das widerliche, bedrückende Gefühl der Hilflosigkeit – trotz allen Fortschritts in der Medizin. Schon viel war erreicht in Operationstechnik, Strahlenbehandlung und Chemotherapie, aber oft kam sich Willbreit vor, als stünde er an einem Meer, schöpfe daraus Wasser mit einem Eimerchen und warte darauf, daß das Meer bald leer sei …
Willbreit legte die Akte zurück auf den Berg der anderen Berichte und verzichtete darauf, die Röntgenbilder an den Lichtkasten zu heften. Was er dieser schönen Russin gesagt hatte, daran erinnerte er sich nicht mehr, aber er meinte, daß sie ihn gebeten hatte, rücksichtslos ehrlich zu sein. Wenn er den Eindruck hatte, daß ein Kranker das vertrug, sagte er die Wahrheit. Nur die wenigsten brachen zusammen; viele standen auf, sagten mit fester Stimme: »Ich danke Ihnen, Herr Professor. Jetzt werde ich die Zeit, die mir bleibt, bewußter leben!« Und das waren auch oft diejenigen, die ruhiger, ja dankbarer starben.
Was hatte die Tochter der Russin, diese Corinna, am Telefon gesagt? »Meine Mutter wird sich nicht operieren lassen.« Das war eine klare Aussage. Er hörte so etwas manchmal auch bei anderen Gelegenheiten, aber dann kamen sie in höchster Not doch, und er mußte der Familie sagen: Zu spät. Was ich tun kann, ist entlasten, sonst nichts. – Aber hier, bei dieser Corinna, war ein besonderer Klang gewesen. Und eine ›abgebrochene‹ Medizinerin war sie auch – genau, das war es: Hier hatte kein ängstlicher Laie nein gesagt, sondern jemand, der alle Risiken übersehen konnte. Es war ein Nein mit dem vollen Bewußtsein der Verantwortung.
Dr. Willbreit legte die Akte Doerinck ganz zur Seite, weg vom Stapel, rief noch einmal die Intensivstation an, die keine Komplikationen meldete, schob dann die Akte in seine Ledertasche und fuhr hinaus zu seinem Haus.
Wie erwartet, hatte Lydia, seine Frau, wieder Gäste. Er hörte sie bis zur Garage lachen. Die Fenstertüren zur Terrasse waren offen, man hatte sich um die Rundbar im großen Salon gruppiert und nahm Willbreits Ankunft gar nicht wahr.
Von der Garage schlich er sich über den kleinen Verbindungsgang ins Haus, stieß mit dem Hausmädchen zusammen, sagte: »Ich bin
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