Die strahlenden Hände
Hand, sagt mit dumpfer Stimme: »Jetzt ziehe ich die Krankheit aus deinem Körper …«, und die Patienten verdrehen die Augen, werden hysterisch und glauben daran. Einigen hilft es sogar, aber man weiß ja, daß viele Krankheiten seelisch bedingt sind. Das sind dann die ›heiligen Erfolge‹, die Dr. Assanurian so berühmt machten – wieder in die normale Richtung gebrachte Hysteriker! Daß er, der deutsche Oberleutnant Stefan Doerinck, David Semjonowitschs Tochter Ljudmila liebte und später beim Rückzug aus dem Kaukasus mitnahm, war ein anderes Kapitel. Dr. Assanurian konnte es nicht verhindern. Es hatte und hat selten zwei Menschen gegeben, die sich so liebten wie Ljudmila und Stefan. Die grusinische Arzttochter und der deutsche Offizier. Ein Jahr lang lebte sie versteckt in seiner Nähe, wo auch immer die Truppe hinzog. Mal sah sie wie eine Bäuerin aus, mal trug sie die Tracht einer deutschen Krankenschwester. Und als Doerinck eine eigene Kompanie bekam und am Schluß des Krieges sogar ein Bataillon – seine Beförderung zum Hauptmann war eingereicht, kam aber nicht mehr zur Ausführung –, stak sie sogar in einer deutschen Soldatenuniform, Dienstgrad Oberschütze, und war dem Kompaniechef als Putzer zugeteilt. Damals fragte keiner, wo der unbekannte Soldat herkam; er war eben plötzlich da, und Doerinck ließ die Schreibstube wissen: Der Oberschütze Hans Plotz arbeitet bei mir als Putzer. Als der Spieß, der gewissenhafte Hauptfeldwebel Müller VI, anmahnte, daß die Papiere des Oberschützen Plotz nicht da wären, kein Marschbefehl, kein Zuweisungspapier, keine Stammrolle, erhielt er von seinem Oberleutnant einen gewaltigen Anschiß. Von da an fragte überhaupt keiner mehr. Man schrieb 1945. Das Ende der großen Scheiße, genannt Krieg, war greifbar. Die deutschen Armeen gingen zügig zurück …
1946 heirateten sie in Dortmund. Die Russin Ljudmila und der deutsche Student an der Pädagogischen Hochschule, Stefan Doerinck.
Sie hat es von ihrem Großvater, dachte Doerinck, und hatte das Gefühl, sein Atem sei brennend heiß. Das ist sein Erbe! Es ist sozusagen in Corinna übergeflossen. O Gott, ist das entsetzlich!
Was soll daraus noch werden?
Er tappte zum Bett zurück, setzte sich auf die Kante und betrachtete seine Frau. Wenn unsere Tochter dich wirklich gesund macht, meine geliebte Ljudmila – wenn du überlebst, dann werde ich unsere Corinna anbeten. Ja, das werde ich! Und ich werde sie gegen jeden Angriff verteidigen, mit all meiner Kraft. Ich werde ihre Feinde erschlagen, wenn es nötig ist. Ich werde … ich werde … O Gott, was werde ich? Es ist doch alles so unbegreiflich.
Er legte sich leise wieder auf den Rücken, zog die dünne Decke über seinen Körper und starrte ins Leere. Plötzlich spürte er Angst. Er hatte Angst vor der Zeit, die noch vor ihm lag. Vor ihm und seiner Familie.
*
Vierzehn Tage ließ sich Dr. Willbreit Zeit, dann rief er doch bei Doerinck an.
Es ist eigentlich nicht üblich, daß ein Arzt nachfragt, wo sein Patient bleibt. Auch ein Kranker ist frei in seinen Entschlüssen. Wem die Nase des Arztes nicht gefällt, der braucht nicht wiederzukommen. Man wird ihm nicht nachlaufen. Das Recht auf den eigenen Körper ist unantastbar, solange es sich nicht um eine Seuche handelt, um eine Epidemie oder meldepflichtige Krankheit.
Warum schleppte Willbreit die Akte Doerinck nun schon zwei Wochen mit sich in der Ledertasche herum? Er hätte es selbst nicht genau sagen können. Der ›Fall‹ war nichts Besonderes. Es gab eine Menge Dickdarm-Cas, die er bisher operiert hatte und die auch in seiner Statistik über ›Prognosen chirurgisch versorgter Erkrankungen‹ nachzulesen waren. Es sollte einmal ein Standardwerk werden, das den Namen Willbreit fest in der medizinischen Forschung verankerte.
Man konnte auch nicht sagen, daß das Kolonkarzinom von Frau Doerinck besonders dramatisch war. Eine halbjährige Überlebenschance stellt für einen Arzt keine bemerkenswerte Dramatik dar. Mit infausten Fällen muß gerade ein Chirurg leben. Also gab es eigentlich nichts, was den Namen Doerinck in Willbreits Gedanken hätte verankern sollen. Dennoch ›klebte‹ er an dem Fall, wie er es selbst nannte, und hatte nun zum Telefon gegriffen, um sich nach dieser Russin zu erkundigen.
Ljudmila war selbst am Apparat. Ihr Mann hatte noch Schule, bis dreizehn Uhr. Corinna arbeitete in ihrer Teppichknüpferei. Sie war allein im Haus bis auf das Hausmädchen, das halbtags half, die gröbste
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