Die strahlenden Hände
war ein typischer Außenseiter. Leider gab es so etwas auch bei den Medizinern, aber Gott sei Dank nicht allzuoft. Willbreit hatte sich sehr kühl verabschiedet und beim Wegfahren im Rückspiegel gesehen, wie Dr. Hambach in der Tür stand und ihm nachblickte.
Ein alter Narr! Es ist ein Fehler in der Gesetzgebung, daß Ärzte von einem bestimmten Alter an ihre Approbation nicht zurückgeben müssen. Mit fünfundfünfzig muß ein Flugkapitän weg vom Knüppel, zur Sicherheit der Passagiere. In Münster aber gab es zum Beispiel einen Chirurgen in freier Praxis, der noch mit achtzig operierte. Wo blieb hier die Sicherheit der Patienten?
Das alles fiel Willbreit ein, als er den Stadtrand von Münster erreichte. Er verließ den Autobahnzubringer, bog in die Straße nach Hiltrup ein und schwenkte dann in Richtung Angelmodde ab. Hier, am Emmer-Bach, in einer idyllischen Gegend, hatte Landgerichtsdirektor Dr. Roemer sein Haus gebaut. Ein Traumhaus! Allein das Reetdach mußte soviel gekostet haben wie ein normales Reihenhaus. Er konnte sich das leisten; weitblickend hatte er die Tochter eines Fabrikanten geheiratet, der stolz darauf war, einen Dr. jur. als Schwiegersohn zu bekommen – obwohl ihn Roemers Leidenschaft fürs Fressen und Saufen störte.
Willbreit blickte auf seine Uhr, als er vor Roemers Landhausvilla parkte und sagte sich, daß es eigentlich unhöflich sei, zur Dinnerzeit einen Besuch zu machen. Aber es drängte ihn, das, was ihm auf dem Herzen drückte, loszuwerden. Mit wem sollte er darüber sprechen, wenn nicht mit Erasmus Roemer, der geduldig zuhören konnte?
*
»Es ist also so, daß man dich aus den Latschen gekippt hat«, sagte Roemer und lachte fett. Er war sichtlich froh über den Besuch, denn er war ganz allein zu Hause. Seine Frau Elise – »sie heißt Elise, weil das Musikstück ›Für Elise‹ das einzige war, das ihre Mutter auf dem Klavier fehlerfrei spielen konnte«, erklärte er sarkastisch – machte einen Kurztrip nach Badgastein, wo ihre Schwester einen Rheumaanfall auskurierte. Gerade hatte er überlegt, wohin er zum Abendessen fahren sollte und sich – um kulinarisch zu schlemmen – für das Waldhotel Krautkrämer am Hiltruper See entschlossen. Seine Vorfreude auf den Burgunderwein und den zartrosa Lammrücken war so groß, daß er Willbreit an der Pforte seiner Villa umarmte und an seine massige Brust zog.
»Thomas, dich schickt der Himmel! Das beste Essen ist, allein gegessen, immer fad. Elise ist in Österreich, wir fressen jetzt vier Kilo Fleisch … na, ist das Lyrik? Auf, auf zu Krautkrämer!«
»Ich habe Probleme«, sagte Willbreit, »und überhaupt keinen Hunger.«
»Hunger kennt nur die Kanaille, und der Pöbel frißt sich satt«, deklamierte Roemer im Burgtheaterstil. »Wir aber speisen! Wir delektieren uns. Wir zelebrieren Bissen für Bissen, Schluck für Schluck.« Er zog Willbreit ins Haus und warf die dicke Eichentür zu. »Probleme? Mit Lydia? Geht sie fremd?«
»Wieso denn?«
»Wär's ein Wunder? Nie bist du zu Hause! Immer die Klinik. Und bist du mal da, läufst du mit dicken Augen herum und bist müde.«
»Steh mal stundenlang am Operationstisch!«
»Und warte mal mit dreiunddreißig Jahren tagelang und wochenlang. Lydia ist eine junge Frau, die öfter mal …«
»Halt's Maul, Erasmus!« unterbrach ihn Willbreit grob. »Es geht um ein Mädchen …«
»O verdammt! Zu Hause trägt er Stahlklammern an der Hose, und hintenherum juchheit er durch die Betten! Eine ernste Sache, Thomas?«
»Ja.«
»Scheidung? Bloß das nicht! Wenn Lydia sich auszahlen läßt …«
»Es ist ein medizinisches Problem.«
»Ha! Sie ist noch Jungfrau? Die Angst des Gentlemans vor der Defloration.«
»Idiot!« Willbreit warf einen Blick auf die riesige Bar, die eine Ecke der Eingangshalle ausfüllte. »Gib mir einen Wodka mit Orangensaft. – Ich bin an eine Wunderheilerin geraten.«
Roemers Lachen war so gewaltig, daß die Kristallampe an der Wand neben ihm leise klirrte.
»Wie ist das nun?« fragte er, als sie in der Bibliothek in den Kaminsesseln saßen und den Wodka tranken. »Eine Wunderheilerin hat dir gezeigt, welch ein medizinischer Esel du bist. Stimmt's? Du bist dagestanden, hast ihr zugeschaut und kamst dir wie eine Null vor. Mach dir nichts draus, Thomas – ich habe das Verschwinden der Warzen meiner Großmutter auch nie begriffen. Ungemein tröstlich: Brustwarzen kann man nicht weg beten. Im Gegenteil. Wenn man die streichelt, dann …«
»Ich bin überhaupt nicht
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