Die strahlenden Hände
als das Telefon anschlug. Sofort hörten alle auf zu essen und starrten auf ihre Teller. Begann der Kampftag? Wer rief um diese frühe Zeit schon an?
Langsam ging Doerinck zum Telefon und hob ab. »Ja?« sagte er kurz. Es war Rektor Hupp, mit einer sehr kleinen, verkrampften Stimme.
»Du …«, sagte er, »ich … ich möchte dich nur bitten, heute nicht zum Unterricht zu kommen. Feisei übernimmt deine Klasse … ich komme nachher, so gegen zehn, zu dir. Ich muß dir erklären …«
»Ist das eine dienstliche Anordnung?« fragte Doerinck knapp.
»Nein, eine Bitte.«
»Ich mache meinen Unterricht wie jeden Tag … seit sechsundzwanzig Jahren!«
»Stefan. Hör mich einmal ohne Umdichschlagen an: Ich habe Anrufe von vier Eltern bekommen, die ihre Kinder nicht mehr zu dir in die Klasse schicken wollen, solange Corinna sich als Wunderheilerin ausgibt. Und das ist nur der Anfang! Begreif es doch! Was soll ich denn tun?«
»Das Kreuz durchdrücken und auf die Schulpflicht hinweisen. Nicht Corinna gibt Unterricht, sondern ich.«
»Du kennst doch unsere Hellenbrander, Stefan! Du bist der Vater, und Ljudmila, die angeblich Geheilte und Kronzeugin des Wunders, ist die Mutter – das kommt alles in einen Topf und wird umgerührt. Die Doerincks … das genügt. Feinabstufungen gibt es da nicht mehr.« Hupp hüstelte verlegen. »Stefan, es ist meine ganz persönliche Bitte: Komm heute nicht in die Schule.«
»Man wird das als Feigheit auslegen, als Versteckspielen, als irgendein Schuldbekenntnis. Aber ich habe weder …«
»Ich weiß es ja, Stefan!« rief Rektor Hupp gequält. »Aber wir sollten jetzt nichts provozieren. Du bist in jedem Fall entschuldigt. Was glaubst du, was heute alles auf euch zukommt! Stefan …«
Doerinck legte auf. Es hatte keinen Sinn mehr, weiterzureden. »Welch ein Arschkriecher!« sagte er nur voller Verachtung. »Ich soll der Schule fernbleiben.«
»Und tun Sie das?« fragte van Meersei.
»Du fährst sofort zum Dienst!« sagte Dr. Hambach fast im Befehlston.
»Niemand kann dich für etwas verantwortlich machen, was deine Tochter getan hat«, rief Corinna erregt.
Doerinck zog den Kopf zwischen die Schultern, wütend und maßlos enttäuscht von einem Freund nach jahrzehntelanger Freundschaft. Er sah Ljudmila an und wartete darauf, daß sie Stellung nahm. Aber sie schwieg.
»Was meinst du, Matjuschka?« fragte er leise.
»Bleib hier, Stefanka. Wir kennen doch diese Leute. Den dritten Teil eines Menschenlebens lang wohnen wir jetzt hier, aber ich bin immer noch eine Fremde. Die Russin. Als ob ich es getan hätte … den Bauern erschlagen, dessen Scheune Cora jetzt hat … Hier war nie meine Heimat … es war nur ein Zuhause, weil du da bist und Corinnaschka, und weil wir irgendwo leben müssen …«
»Mein Gott!« Doerinck wischte sich über die Augen. »Du hast mir nie in all den Jahren gesagt, daß du unglücklich bist …«
»Ich bin nicht unglücklich. Nur: Die Erde, über die ich gehe, ist nicht die Erde von Grusinien. Die Menschen sind nett zu mir … aber eben nur nett. Es fehlt das Herz, die Brüderlichkeit … In Rußland umarmt man sich und küßt sich und sagt: ›Gesegnet seist du, Schwesterchen‹, und man meint es auch so. Hier umarmt man mich auch, aber ich spüre die steifen Muskeln dabei. Man küßt auf ein Glas, das zwischen uns ist.«
»Du hast nie darüber gesprochen, Ljudmila …«
»Wozu? Hätte es etwas geändert? Wir müssen leben mit dem, was uns das Schicksal zugeteilt hat. Du hast hier deine Stellung, du verdienst hier dein Geld, du bist zufrieden mit dieser Welt, unser Kind ist hier ein Mensch geworden, wir werden hier ruhig sterben – ist das nicht ein schönes Leben? Was will man mehr? Das andere, die ewige Fremde … o Stefanka, es ist nicht für dich. Es ist nur für uns Russen … so weit die Welt ist, so groß ist unser Heimweh, tief hier drinnen in der Brust, wenn wir aus der Ferne an Rußland denken. Wir sind Bäume, die sich wohl verpflanzen lassen, deren Äste aber immer dem Ostwind entgegenwachsen.«
»Ich werde nach dem Frühstück zu Hupp und Beiler gehen!« sagte Dr. Hambach wütend. »Ich kenne sie, seit sie noch als Rotzjungen in meine Praxis kamen und die Masern oder die Windpocken hatten. Denen werde ich was erzählen! Man nimmt es mir nicht übel, ich habe Narrenfreiheit!«
Aber zu diesen Gängen kam Dr. Hambach gar nicht.
Das Polizeirevier rief an. Der Chef der Polizei von Hellenbrand, Oberkommissar Blinker – der Name hatte ihm
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