Die strahlenden Hände
aufmerksam, wir sprachen dann telefonisch miteinander und kamen zu der Ansicht, daß sie für die kommenden schweren Stunden einen Beistand braucht. Die Fernsehsendung hat meine Befürchtungen noch übertroffen. Ich bin sofort gekommen, um – so gut es geht – eine wissenschaftliche Mauer um sie zu ziehen.«
»So gut es geht … Sie sagen es. Eine Frage – aber bitte ehrlich beantworten: Sind Ihre Forschungen umstritten?«
»Sehr!« antwortete Meersei ohne Zögern. »Wären sie das nicht, würde man sich nicht mit ihnen auseinandersetzen. Schweigen ist vernichtend, darüber meckern die beste Publizität.«
»Das ist doch zum Junge-Hunde-Kriegen«, seufzte Dr. Hambach, setzte sich neben Ljudmila auf das Sofa und zeigte auf die Flasche. »Gieß endlich ein, Stefan! Wenn ich mir diese Streitmacht besehe, juckt mir die Kopfhaut: Ein Mädchen, das man zur Wunderheilerin verurteilt; ein Wissenschaftler, dessen Forschungen nur Ärger auslösen; ein Lehrer, der am liebsten allen in die Fresse hauen möchte; eine geheilte Krebskranke mit dem Gemüt einer Madonna – und ein alter, trotteliger Landarzt, dem man Narrenfreiheit zubilligen wird. Und damit wollen wir die Schulmedizin aus den Angeln heben? Du lieber Himmel, dagegen war Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen eine das Abendland rettende Tat!«
Erst gegen ein Uhr nachts löste sich die Gesellschaft auf. Van Meersei schlief auf der Couch in Doerincks Arbeitszimmer, Corinna in ihrem alten Jungmädchenzimmer, Dr. Hambach – dem Doerinck den Autoschlüssel weggenommen hatte und der sich daraufhin weigerte, zu Fuß nach Hause zu gehen – nahm mit dem Sofa im Wohnzimmer vorlieb. Sie schliefen alle fest, bis auf Professor van Meersei, den das Telefon auf Doerincks Schreibtisch weckte. Es sprang vom Wohnzimmer automatisch ins Arbeitszimmer um, wenn sich beim ersten Apparat keiner meldete. Dr. Hambach hörte das Klingeln nicht; er schnarchte mit einer Hingebung und einer Intensität, die Bewunderung abverlangte.
Meersei schrak also hoch, als das Telefon rappelte, schlurfte zum Schreibtisch und hob den Hörer ab.
»Van Meersei«, meldete er sich korrekt.
»Wer?« fragte eine dröhnende Stimme. Erschrocken hielt Meersei den Hörer von seinem Ohr weg. Das eine Wort war wie ein Faustschlag gegen sein Trommelfell gewesen.
»Van Meersei!« sagte er noch einmal höflich.
»Wo?«
»Amsterdam.«
»Ich habe Hellenbrand gewählt.«
»Das stimmt auch.«
»Moment! Haben Sie einen sitzen?«
»Was habe ich?« fragte van Meersei noch immer höflich. Ein gut erzogener Mensch bleibt lange im seelischen Gleichgewicht. »Ich habe gelegen.«
»Sind Sie besoffen?« brüllte der unhöfliche Mensch am anderen Ende. »Wo sind Sie jetzt?«
»In Hellenbrand.«
»Ich denke in Amsterdam?«
»In Amsterdam bin ich auch.«
»Ist dort Doerinck?« schrie der ungehobelte Kerl. Meersei hielt den Hörer wieder etwas von seinem Ohr ab. Menschen gibt es!
»Nein. Professor van Meersei.«
»Also doch Amsterdam …«
»Wenn Sie so wollen …«
»Es ist zum Kringelscheißen! Wie kommen Sie in meine Leitung?«
»Das muß ich Sie fragen. Sie haben mich angerufen, Mijnher …«
»Hellenbrand – nicht Amsterdam!« brüllte der Kerl. »Ich bin doch nicht schwachsinnig!«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten, ich kenne Sie nicht.«
»Hier ist Roemer …«
Van Meersei schloß die Augen und atmete tief durch.
»Welcher Römer? Welches Jahrhundert? Wie heißt Ihr Kaiser? Cäsar, Caligula oder Nero? Oder ist es Claudius, der Stammler?«
Erasmus Roemer war über diese Antwort zunächst sprachlos. Dann aber, gewissermaßen nach einer langen Schrecksekunde, brüllte er auf. »Sie zugesoffenes Loch! Welche Nummer haben Sie?«
»Hier? Keine Ahnung.«
»Aber Sie sitzen doch am Apparat!«
»Nein, ich stehe.«
»Wo?«
»In Hellenbrand.«
Roemer zog die Luft laut in die Lungen. »Kennen Sie Bonifazius Kiesewetter, der ins Telefon schiß?«
»Nein. War der Herr sehr krank?«
»Ist dort der Anschluß von Herrn Doerinck?« schrie Roemer.
»Natürlich.«
»Und was machen Sie da?«
»Ich lag hier auf der Couch und wollte schlafen. Wer konnte ahnen, daß ein alter Römer anruft.« Meersei, als Psychiater für solche extremen Fälle geschult, blieb ganz ruhig und sanft. Man muß einen Irren reden lassen und immer freundlich zu ihm sein, das ist eine Grundregel. Reden befreit, löst Verkrampfungen, entlastet die Nerven. Ein guter Nerven- und Seelenarzt muß zuhören können. »Wie läuft bei
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