Die Strasse ohne Ende
die Sanddünen am Rande der Salzseen. Die ersten Kamelherden nahmen mich gefangen; ich starrte sie an und sah in ihnen die Ruhe und die Ewigkeit der Wüste. Wie nichtig ist es da, ob in Paris ein Kabinettsmitglied gegen Deutschland sprach und ein Milchauto bei Versailles umstürzte. Der Minister wird gestürzt werden, das Milchauto wird verrosten – alles wird einmal nicht mehr sein, nur eines wird bleiben: die Wüste! Die große Schweigende, wie der Araber sie nennt, die Sahara.
Der Bettler rührte sich. Sie legte die Zeitung weg und beobachtete ihn. Aber er erwachte nicht aus seiner Besinnungslosigkeit, die Agonie hielt an. Jacqueline gab ihm eine Injektion mit Cardiazol, da wurde er stiller, nur seine Haut zuckte, als spüre sie die wahnsinnigen Schmerzen.
»Alles klar, Jacqueline?«
»Ja, Doktor. Alles in Ordnung. Puls sehr schwach. Er wird nicht durchkommen.«
»Das fürchte ich auch, Jacqueline. Aber wir haben sein Blut! Das ist das Wertvollste! Ich bin mitten in einer großen Versuchsreihe. Die Viren sind deutlich sichtbar, aber sie reagieren auf kein Mittel. Sie schwimmen im Blutplasma herum, als fühlten sie sich dort sauwohl.« Er lächelte entschuldigend über das letzte Wort und schloß wieder die Tür.
Jacqueline blickte die Türfüllung an. Sie träumte.
Wenn es möglich war, daß er die Deutsche vergaß … Sie würden nach Nîmes ziehen und dort die Praxis des Vaters wieder aufbauen; sie würden in den Weinbergen liegen, die Sonne der Provence über sich, und wunschlos glücklich sein. Sie würde Kinder bekommen, blonde oder schwarzlockige Kinder. Die Welt wäre ein riesiger Garten der Freude. Und er würde in Nîmes sein, am Krankenhaus operieren, in den Labors weiterforschen und einmal berühmt sein, ein großer Arzt, geehrt von allen – ihr Mann!
Nur die Deutsche stand im Weg, diese kleine Tänzerin Hilde Sievert. Vielleicht sah er sie nie wieder, vielleicht tauchte sie in der Wüste unter, vergessen, in irgendeiner Oase lebend, fern allen Weißen. Mit der Zeit würde die Erinnerung an sie sterben, denn es ging ja weiter, das Leben. Dann würde das Bild der Deutschen immer mehr verblassen, bis es ganz fahl war und nur ein Schemen in der Erinnerung. Aber Jacqueline war immer um ihn, sie war das Leben, sie sprühte wie ein ewiger, unversiegbarer Brunnen. Sie sah er immer, ihre Augen, ihre Lippen, ihren schönen Körper.
Vielleicht … vielleicht. Sie starrte vor sich hin und lächelte vor Glück.
Sie wünschte, daß die Deutsche nie wieder auftauchte. Sie war in ihrer Liebe so grausam, ihr den Tod in der Wüste zu wünschen.
Sie schloß die Augen und drückte die beiden geballten Hände aneinander. Ich liebe ihn, dachte sie. Mein Gott, ich liebe ihn wie ein Verdurstender das Wasser. Verzeih mir alles, was ich denke! Ich liebe ihn doch!
Auf dem Bett stöhnte der Bettler.
Jetzt bin ich endlich frei! Aber bin ich auch glücklich?
Wenn ich abends am Fenster sitze und über die Palmenhaine blicke, dann klingt in meinen Ohren noch dieses Kinderlied, das das unbekannte Mädchen vor der Ruine sang. Es hatte die Stimme meiner Mutter. Darüber komme ich nicht hinweg. Es peinigt mich, daß ich das Mädchen nicht wiedersah und nichts tun kann, um es zu suchen.
Der stolze Araber Fuad el Mongalla ibn Hadscheh schwieg. Er blieb stumm, obwohl man beim Verhör zu unerlaubten Mitteln griff und ihn mit Kamelpeitschen schlug, in die Platzwunde Salz streute und seine Fußsohlen in einen Haufen glühender Holzasche legte. Ich mußte mich abwenden, als die eingeborenen Polizisten in diesem ›Verhör‹ ihren Landsmann befragten. Aber er blieb stumm, er schrie nicht ein einziges Mal, er sah nur auf mich, mit einem Blick, den ich schon bei Amar Ben Belkacem bemerkte und der mich ahnen ließ, wie tief die Rätsel der arabischen Seele sind.
Wir erfuhren nicht den Namen des Mädchens, nicht seine Herkunft, nicht, wohin man sie gebracht hatte – daß sie deutsch sprach, ist das einzige, was ich weiß. Und das erschüttert mich, das ruft mich auf, sie zu suchen.
Seit drei Tagen wohne ich jetzt in Bou Saâda. Man hat mich in das große Hôtel Transatlantique gesteckt, in diesen Märchenpalast aus Tausendundeiner Nacht. Den ganzen Tag liege ich auf der Terrasse oder sitze in den Korbsesseln unter den blühenden Büschen. Wenn es zu heiß wird, schwimme ich in dem herrlichen Bassin und lege mich dann unter den Zwergpalmen in die Sonne, während unter dem bunten Sonnenschirm der Siphon mit der eisgekühlten
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