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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Passanten vorbeikam oder etwa an Frau Wagner oder Frau Niebel, die gerade aus den Fenstern ihrer Häuser auf die Straße blickten, warf ich mich voller Eifer in die Brust und intonierte noch lauter, so daß sich anschließend die Telefonanrufe bei uns zu Hause häuften und mir nahegelegt wurde, ich sollte das doch um Gottes willen bloß unterlassen.
    Ebenfalls zu dieser Zeit sah ich im Fernsehen einen Fünfundvierzigminutenfilm über Vulkane. Danach hielten mich alle eine Weile lang für endgültig versaut. Es war ein Naturgeschichtsfilm über die Entstehung der Vulkane, über ihr Aussehen, über ihre Wirkung, und es wurden ausführlich Vulkanausbrüche erläutert und in Filmaufnahmen gezeigt, immer mit einer erklärenden Stimme aus dem Off. Fließendes Gestein, sich rot dahinwälzend. Magma in den unteren Schichten der Erde, dann kommt es heraus und heißt Lava, das fließt dann überall herum, dann erkaltet es, und was übrigbleibt, das graue, poröse Gestein, hieß in der Sendung Tuff . Dieses Wort hatte ich noch nie gehört. Es fiel immer wieder. Der Tuff. Ich fand dieses Wort lustig, es klang luftig und selbst so porös, ich stellte miretwas vor, was voll kleiner Zwischenräume war und irgendwie leicht von Konsistenz, voller Nichts, wie Luftschokolade. Ich versuchte mir dieses Wort zu merken, und wenn ich es an jenem Abend vor mich hin murmelte, das neue Wort, mußte ich manchmal lächelnd meinen Kopf schütteln, so sehr amüsierte mich der geradezu burleske Ton.
    Wuff, Tuff, Knuff, Puff , ich probierte allerlei Kombinationen aus, um den Klang des Wortes zu erforschen und einzuordnen. Ein Wort für eine Gesteinsart schien mir überhaupt nicht in diese Klangreihe zu passen, so daß ich sogar meine Eltern fragte, sei es an jenem Abend beim Abendessen oder am nächsten Morgen beim Frühstück, ob sie wüßten, was Tuff ist, und ob sie dieses Wort schon jemals gehört hätten. Meine Mutter sagte, das sei eine Gesteinsart. (Meine Mutter hatte bis vor wenigen Jahren noch den Steinmetzbetrieb geleitet und infolgedessen mit einigen Gesteinsarten zu tun gehabt.) Über die vulkanische Abstammung des Tuffs wußte sie aber, glaube ich, nichts.
    Ich hatte an dem auf die Sendung folgenden Tag Erdkundeunterricht im großen Saal gegenüber dem Hauptgebäude. Es war immer etwas Besonderes, in diesem Saal, der besonders hell und licht war, Unterricht zu haben und nicht im anderen Gebäude in den einzelnen Klassenzimmern, die kleiner und dunkler waren. Man saß an anderen Tischen neben anderen Leuten, es war stets eine Art Ausnahmesituation (ich glaube sogar, es waren für diese Stunde zwei Klassen zusammengelegt worden). Wie auch immer, ich saß da, folgte ein wenig dem Unterricht, geriet dann aber auf eigene Wege, und mir fiel das seltsame Wort des Vortags wieder ein.
    Das Licht schien durch die Fenster, ich war infolge der Sendung am Vorabend noch immer gut gelaunt, ließ meine Beine baumeln oder wippte ein wenig mit dem Stuhl, und mein Kopf begann wieder Lautketten um das Wort Tuff herum zu bilden. Ich hatte bislang gar nicht darüber nachgedacht, wie man das schreibt. Ich schrieb es auf ein Blatt Papier, konnte aber nicht entscheiden, ob es so möglicherweise richtig geschrieben war oder nicht. Ich sagte: Tuff tuff tuff tuff tuff, ganz leise, und mein Nachbar oder meine Nachbarin mögen gedacht haben, ich sei im Augenblick eine Lokomotive beim Anfahren. Ich stellte mir selbst eine Lokomotive vor und steigerte das Tempo: Tuff-tuff-tuff-tuff-tuff! Dann ließ ich aber davon ab und sprach das Wort wieder einzeln aus, inzwischen lauter. Dann versuchte ich es rückwärts zu schreiben. Denn auch rückwärts klang es ebenso seltsam wie lustig. Ich saß nun da und sprach es vorwärts und rückwärts, immer mit einem übertriebenen Spirant und einem knallenden Dental. Ich merkte gar nicht, daß die anderen mir inzwischen zuhörten. Es klang wieder ähnlich wieeine Vogelstrophe: Futt, futt, futt, tuff tuff, futt futt . Eine Zeitlang hielt ich mich ausschließlich bei der Umkehrung Futt auf und intonierte sie immer lauter, meiner Umwelt etwas entrückt, und schließlich wurde auch die Lehrerin darauf aufmerksam und fragte über sämtliche Bänke hinweg: Bitte?
    Ich entschuldigte mich und bat um Verzeihung, war still, fing dann aber doch wieder an. Es machte mir einfach einen geradezu mechanischen Spaß. Die Lehrerin starrte mich mit großen Augen an, während ich wieder ganz zischend und explosiv das Wort Futt! hören ließ, stakkatohaft

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