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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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der Schule und der gesamten Gesellschaft gegenüber zum Ausdruck bringen und dem Jungen am Tisch zeigen soll, daß es, das Mädchen, alldem hier eigentlich schon völlig entwachsen ist und daß man eigentlich schon in einer vielhöheren, kategorial enthobenen Freiheit lebt, durch die hindurch sie gern mit ihm, dem Jungen, ziehen würde, Stunde für Stunde und Tag für Tag, durch diese grenzenlose Freiheit, die sich in ihrem Kopf ausbreitet hier am Schultisch. Sie beobachteten an sich, wie sie auf dem Pausenhof herumstanden, wie sie nach ihren Zigaretten griffen, wie sie die Hände in die Hosentaschen steckten, wie sie sich mit dem Rücken gegen die Schulwand lehnten und dabei ein Bein hochzogen und in Kniehöhe gegen die Wand stemmten, wie sie die Zigarette in der Hand hielten, wie sie sie zum Mund führten, wie sie rauchten   … Wer von den Mädchen diese spezifische Art der Selbstbeobachtung noch nicht verinnerlicht hatte, sondern noch die Kinderunbewußtheit im Gesicht und in der Körpersprache trug, der wurde nach hinten durchgereicht und gehörte absolut gar nicht mehr dazu. Solche Mädchen, gleichsam noch verpuppt, gingen dann eine Weile verloren und tauchten manchmal später, nach einigen Wochen oder Monaten, phönixgleich aus ihrer Asche wieder auf und hatten nun den noch viel weiter fortgeschrittenen Schlafzimmerblick und die noch weitaus besser beobachtete Körpersprache als die anderen und waren plötzlich schlank und schön und die Angebeteten des Schulhofs.
    Ebenso wie sich selbst beobachteten sie die Jungs: wie sie blickten, wie sie dastanden, ob sie schauten,ob sie nicht schauten, wobei es einerseits gut war, wenn sie schauten, aber andererseits eigentlich noch besser war, wenn sie nicht schauten, weil die, die nicht schauten, den Mädchen viel weniger peinlich erschienen als die, die schauten, weshalb sich die Jungs an eine bestimmte Art des Nichtschauens gewöhnten, die zugleich ein Schauen bedeutete, ohne es doch zu sein. Sie untersuchten die Kleidungsstücke des betreffenden Jungen mit ihren Augen, seine Art, wie er den Rücken an die Wand lehnte, beim Rauchen ein Bein hochzog, wie er rauchte und dabei nicht schaute und so weiter. Und die Jungs beobachteten die Mädchen natürlich ebenso auf all das hin und vor allem natürlich daraufhin, ob sie schauten bzw. nicht schauten, das war nun der Pausenhof geworden. Und wenn die Schule aus war, hatte inzwischen keiner mehr Lust, nach Hause zu gehen. Man zögerte den Schulheimweg so sehr in die Länge, wie es nur ging. Nach dem Schulendegong trafen sich die Lieblingspaare und zogen dann mehr oder minder ziellos, nur vage Richtung Heimweg oder Bahnhof (viele Schüler der höheren Schule kamen aus dem Umland und fuhren mit der Bahn), durch den Winter-, Frühlings-, Sommer- oder Herbsttag, wobei Frühling und Sommer natürlich am schönsten waren, man saß auf Bänken oder ging ins Eiscafé und lebte eigentlich ganz selbständig, und auch das Geld in der eigenen Tasche, also das Taschengeld der Eltern, war in diesem Augenblick nicht mit den Eltern kontaminiert, sondern einfach so da. Ein Glücks- und Freiheitsmittel war das Taschengeld, besonders auf diesen ziellosen Schulheimwegen, auf denen sie für eine halbe oder ganze Stunde so taten, als könne es von nun an für immer so sein; die komplette Frühlings- und Sommerfreiheit und -ungebundenheit in Friedberg in der Wetterau Anfang der achtziger Jahre.
    So ergoß sich jeden Tag ein Strom von Mädchen und Jungs von der Seewiese heraufkommend über die Kaiserstraße, und sie saßen auf den Bänken vor der Schillerlinde oder standen auf dem Platz vor den Telefonzellen oder an den Kiosks, und für eine halbe Stunde oder mehr war die komplette Innenstadt ausgefüllt von den Schülern, die sich alle untereinander kannten und genau über die anderen wußten, zu welcher Gruppe sie gehörten und wer mit wem befreundet war und welches Mädchen welchen Freund hatte und welches Mädchen welchen Freund nicht hatte, sondern nur herbeisehnte, bzw. umgekehrt welcher Junge welches Mädchen hatte oder herbeisehnte, und so saßen sie auf der Kaiserstraße an allen Orten und auf allen Treppenstufen der Läden herum in ihrer schulnachmittäglichen Komplettsehnsucht, deren Größe und Tragweite sie auf diese Weise aneinander verglichen und abmaßen. Irgendwo unter ihnen gab es die drei, vierKönigspaare, die leuchtenden, von allen bewunderten Paare, die sozusagen an der Schule in der Schülergesellschaft führenden

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