Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
unbewußt und wie fast immer ohne eigene Worte.
    So war die Kaiserstraße jeden Tag ein Sammelbild sämtlicher Sehnsüchte und sämtlicher Institutionalisierungsgrade dieser Sehnsüchte, mit denen ich von Anfang an aufgewachsen war, und ich lief mit H. oder mit Anke oder Bülent, meinen Freunden, ebenfalls über die Kaiserstraße, und wir betrachteten dieses Bild, und eigentlich begriffen wir es bereits, konnten es aber selbst noch nicht in Worte fassen. Es gab in diesem Bild Menschen wie meine Eltern, die gerade mit ihrem Wagen herumfuhren, entweder um etwas für die Familie zu besorgen oder nach ihren Töchtern zu suchen, also Menschen mit eigenem Haus, Kindern und den entsprechenden Lebensführungen, mit denen man sich in der Gesellschaft zeigen konnte; dann gab es die anderen, die sich in keiner Gesellschaft mehr zeigen konnten, weil ihnen die Mädchen und die Knaben bzw. Buben das Leben zunehmend zugewuchert hatten biszur kompletten Handlungsunfähigkeit oder Bewegungslosigkeit; dann gab es solche wie den Vater H.s, der traurig zwischen alldem herumzog und so etwas wie ein Depressionskolorit oder gar ein Selbstmordkolorit zum Bild hinzufügte; dann gab es die Kioskbesitzer mit ihren Magazinen und Bildern von Bravo über den Hustler bis hin zu dem, was man spätestens ab vierzehn oder fünfzehn geheim unter dem Tresen erhielt, wenn man einigermaßen reif aussah, und weiter wurde das Bild der Kaiserstraße komplettiert von ebenjenen Mädchen und Jungs, die gerade ihren großen Frühling oder Sommer hatten und die als das eigentlich explosive Material für den Hauptteil dieser ganzen Erschütterungen zuständig waren, ohne daran irgendeine Schuld zu tragen, außer daß sie eben da waren.
    Gegen zwei, halb drei Uhr hatten sich die Schüler, die Jungs und Mädchen, dann verlaufen, die Eltern waren froh, die Kinder wieder bei sich zu wissen, die Altstadtmenschen in ihren Häusern waren erschöpft und atmeten durch, und die Kiosks konnten wieder unbeobachtet frequentiert werden. So ging es jeden Tag. Zwar sah es niemand, alle taten so, als sei das nicht so, oder sie merkten es gar nicht, dabei ging es geradezu ausschließlich immer überall um das. Die Welt, jenes Friedberg in der Wetterau Anfang der achtziger Jahre, war transparent geworden und ließ überall die Formen der anderen Weltdurchscheinen, in jedem Haus, in jeder Familie, bei jedem Jugendlichen, in jedem Magazin, in jeder Fernsehsendung, in geradezu jeder Gesellschaftsregel, in nahezu jeder Verhaltensanweisung oder moralischen Vorstellung und im Ritus der gesamten Gesellschaft war es anwesend, durch die Zeiten und Generationenfolgen hindurch, von den Doktorspielen in den Kinderzimmern über die sogenannten ganz normalen Familien bis hin zu den alten Männern in ihren ausgebeulten Hosen, deren Geruch ich noch in der Nase hatte.
    Was war es aber für die Schüler, die so massenhaft zu sehen waren auf jenem Kaiserstraßenbild? Für sie war es bloß Frühling, und für sie waren es die frohen Sommertage. Und die Vögel flogen im Himmel, und die jungen Leute schauten auf und glaubten sich ihnen ähnlich in ihrem Sehnen und nahmen sie als Bild dafür. Worte gab es, wie gesagt, kaum welche. Liebe, Verknalltsein und der böse fremde Mann auf der Straße. So ein alter, komischer Typ, der die Eva angesprochen hat, aber wir waren gleich da. Ziemlich klar, was er wollte. Bestimmt so einer. So ein Wichser. Das gab es immerhin als Worte.
    Ansonsten gab es: Die Mädchen schauten den Jungs auf die Jeans, und die Jungs schauten den Mädchen auf die Jeans, auch das war ihr Frühling, auch das war Sommer, und überall sonst schauten sie auch hin, zumindest soweit es ging oder sie esbereits wagten. Für viele wird es später ihre größte Zeit gewesen sein, als sei das Sein genau einmal gewesen, nämlich da. Einmal ganz und gar und wirklich. Und sie mittendrin. Und alles eigentlich für sie.
    Meinen Onkel J. habe ich ebenfalls hin und wieder auf der Kaiserstraße erlebt, wenn die Schule aus war. Manchmal kam auch unten bei uns im Barbaraviertel ein Stoß von Schülerinnen an ihm vorbei. Er war dann schlichtweg überfordert. Er sah die Mädchen, und dann mußte er schauen, und er konnte sein Schauen gar nicht verhindern. Er lief gar nicht absichtlich auf die Kaiserstraße, aber wenn so ein Mädchentrupp an ihm vorbeikam, dann konnte ihm anschließend jedermann ansehen, was eben an ihm vorbeigekommen war. Er wirkte, als sei ihm der Allmächtige begegnet oder als habe er mit dem

Weitere Kostenlose Bücher