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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Liebespaare, sie wie er wichtige und in der Schülerhierarchie am höchsten angesehene Mitglieder – sie saßen nicht an ausgewählten Plätzen, aber jeder Platz, an dem sie saßen, schien den anderen wie auserwählt; dann gab es den Hofstaat, das war die Unzahl derer, die die weniger wichtigen Liebespaare bildeten, auch einzelne, die die Königspaare satellitenhaft umgaben; dann gab es noch die, die sich lieber von den anderen abschotteten und auf dem Heimweg ihre Einsamkeit zu zweit suchten, weil sie auch ansonsten eher niederrangig waren und in dem allgemeinen Gesellschaftsspiel des vorzeigbaren Verliebtseins nicht mithalten wollten, weil sie nicht konnten und das Ganze natürlich gerade deshalb besonders blöd fanden, und vor allem fanden sie die Königspaare blöd und es sowieso nicht nachvollziehbar, wieso diese Gruppe von sechs oder acht handverlesenen Mitschülern so angesehen war. Auf der gesamten Kaiserstraße vibrierte es in dieser halben oder ganzen Stunde nach Schulende, und die anderen Friedberger, die Erwachsenen, liefen zwischen ihnen hindurch wie durch eine Masse von vorübergehend unheilbar Kranken, die zufälligerweise hier angespült worden waren wie Treibgut ans Ufer und die so zahlreich waren in ihrer Krankheit, daß sie auf offener Straßegelagert werden mußten, weil nirgends sonst Platz für sie war in der gesamten Stadt. Die Mädchen saßen auf den Bänken und zeigten sich und wollten gesehen werden, und natürlich liefen auch die besagten Altstadtbewohner zwischen ihnen umher und schauten sich die Augen aus dem Leib, nur daß sie hier nicht zugreifen konnten, denn dazu war der Auflauf der Schüler viel zu groß. In der Tat waren Mädchen in diesem Alter für die Altstadtmännchen ebenso attraktiv wie noch drei, vier Jahre zuvor wir. Zuerst hatten sie sich für die Knaben bzw. Buben interessiert, später aber waren es, je nach Entwicklungsgrad, die Mädchen. Die Kaiserstraße war ein gefährliches Pflaster für die Hexenhausbewohner, denn die Mädchen bewegten sich in Gruppen, und in einiger Entfernung bewegte sich parallel dazu und immer in Sichtweite die Komplementärgruppe der Jungs, beide voneinander getrennt und doch in unsichtbarer, aber um so engerer Verbindung miteinander. Die Mädchen hatten inzwischen ein ausgeprägtes Talent, solche wie die Hexenhausleute schon im ersten Augenblick als das zu erkennen, was sie waren, und sie enttarnten sie sofort und riefen ihnen Dinge zu, Invektiven, denn sie waren stark, weil sie gemeinsam waren, und sie waren unangreifbar und spürten das. Wenn einer der Alten zwei Sekunden zu lange hinschaute oder ein Wort an eines der Mädchen richtete, waren sofort alle anderen da und riefen, der Perverse solle abhauen da, das Schwein, der lungere doch immer hier herum, wenn die Schule aus sei, der komme doch absichtlich hierher, und kaum ging das Gezeter los, waren auch die Jungs bereits da, krempelten sozusagen die Ärmel hoch zum Nahkampf, beschützten die Mädchen und hatten nun etwas, mit dem sie zeigen konnten, wie sie sich für die Mädchen einsetzten und wie sie ihren Mut und ihre Tapferkeit für sie in die Waagschale warfen, wenn auch nicht so spektakulär wie bei jenem besagten großartigen Zusammengeschossenwerden in Der Pate (eine Szene, die damals alle bewunderten), sondern nur, indem man dem betreffenden Friedberger, den sein Verlangen nach den Mädchen auf die Straße getrieben hatte, von hinten noch eins draufgibt und ihm möglichst noch hinterhertritt. Die Hexenhäusler, die noch wenige Jahre zuvor uns gegenüber so zielsicher aufgetreten waren, zogen nun ihre Köpfe ein und ließen sich demütigen, konnten nichts mehr ausrichten, kamen dem Objekt ihrer Begierden nicht nahe, steckten die Tritte ein, zogen irgendwann nach Hause ab, vielleicht sogar im Tiefsten getroffen und verzweifelt über dieses Dasein, und am nächsten Tag konnten sie doch nicht anders und mußten wieder hinaus. Von den Mädchen und Jungs wurden sie freilich nur ganz am Rand wahrgenommen, und selbst wenn sich die Jugendlichen den Alten gegenüberpogromhaft zusammenrotteten (in der Gruppe ging so etwas blitzschnell), wurde die Zusammenrottung anschließend ebenso schnell wieder vergessen, wie sie zustande gekommen war. Die Welt gehörte in jenen Frühlings- und Sommertagen in der Stunde nach der Schule ganz ausschließlich ihnen, und sie waren eigentlich die Welt, so kam es ihnen vor, auch wenn sie natürlich gar nicht wußten, daß es ihnen so vorkam. Es war alles

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