Die Straße - Roman
schon keiner mehr die Bravo, dafür sind sie viel zu erwachsen, sie haben sie eigentlich schon vergessen. Bei einer Freundin meiner Schwester stand noch lange ein Starschnitt von David Cassidy. Es war bereits ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, in der quasi noch ganz andere Menschen gelebt hatten, Urmenschen, seltsam gekleidet, noch seltsamere Musik hörend, Mitte der siebziger Jahre, eine Zeit, die universenweit entfernt war von der Zeit jetzt, dem Ende der siebziger Jahre. Von damals T-Rex bis nun Kim Wilde: ein Generationensprung bereits in der eigenen Jugend.
Bei den Jungs war inzwischen auch der Kicker-Starschnitt außer Mode. Nichts hielt lange vor für sie.
Die Jungs schauten auf den David-Cassidy-Starschnitt, auf die David-Cassidy-Hosen und die David-Cassidy-Jacke, waren angewidert, denn dieser Typ sah wirklich absolut daneben aus, nicht zeitgemäß, einfach nur lächerlich, und die betreffende Freundin (sie hatte den Starschnitt nur aus einer gewissen kindlichen Treue zu ihrer einstigen Fan-Liebe an der Wand gelassen, lebensgroß) merkte das und fand die betreffenden Jungs, die sich daran störten, eigentlich ziemlich doof, aber dann machte sie doch kehrt und entsorgte den Bravo-Starschnitt ebenso heimlich wie plötzlich. Auch er war ein Bote aus der anderen Welt gewesen, noch in Kindersprache übersetzt, als Vorbereitung auf das Kommende, aber das hatten sie noch nicht gewußt, als sie Woche für Woche den neuen Abschnitt angefügt hatten, Wade an Knie an Schenkel und Hüfte usw., so wie ich als Kind stets die neuen Teile meines Asterixdorfs oder meines Sherwood Castle Woche für Woche gesammelt und das Bild sukzessive vervollständigt hatte. Am Ende stand dann das komplette Dorf oder die komplette Burg da, und bei den Freundinnen meiner Schwester stand der komplette Starschnitt, die Hosen so eng im Schritt, ausgewaschen und bei den meisten der männlichen Stars mit dem hellen Fleck,daß es den Mädchen nun eigentlich schon ziemlich peinlich war, weil sie es langsam begriffen. Und unten mit Schlag. Jetzt aber waren sie schon bei Röhre und die Starschnitte bald alle verschwunden und schon wieder vergessen.
Auch wenn es nur Poster an der Wand gewesen waren, so waren es doch Manifestationen der Willensregungen von der anderen Seite und der anderen Welt, die Objektivationen im hiesigen Sein, denn den Urtext ihrer Sehnsucht hätten sie nicht an die Wand hängen können, zumal sie ihn gar nicht wörtlich kannten, sondern immer nur seine Umschreibungen. Es war überall: Wenn sie mit dreizehn beim Schulausflug im Bus beieinandergesessen und, noch völlig unerfahren, über die neueste Aufklärungsseite gegickelt hatten oder wenn sie nun, mit fünfzehn, sechzehn, immer noch im Schulbus auf dem Weg zu ihren Ausflügen saßen und über Zungenküsse oder Oralverkehr sprachen, wie das so sei, mit einer nun fast medizinalen Ernsthaftigkeit das eigene Wissen präsentierend, und sei es auch nur erfunden, um nicht hinter den anderen zurückzustehen; oder wenn sie in der Schule den Lehrer neuerdings ganz genau vermaßen und plötzlich zu den einen Lehrern sehr nett wurden und ihren Schlafzimmerblick aufsetzten bzw. sich in Positur brachten und den anderen Lehrer überhaupt nicht mehr ernst nahmen und sich auch nicht mehr hinter seinem Rücken über ihnlustig machten, sondern vor seinen Augen, weil ihr Überlegenheitsgefühl ständig wuchs; wenn sie nun mit jener neuen Ernsthaftigkeit, die nichts Kindliches mehr an sich hatte, danach strebten, neben dem oder dem Jungen zu sitzen, und wenn sie dann tatsächlich neben dem Jungen saßen und dann so mit ihm sprachen, als seien sie, das Mädchen und der Junge, eigentlich das Zentrum der Welt und viel weiter und reifer und ernster, aber auch freier und einfach besser als sämtliche Menschen um sie herum und vor allem alle die Erwachsenen. Das Händchenhalten und das Küssen wirkten nun erfahren und routiniert, selbst wenn es das erste Mal für die Jugendlichen war – als Kinder hatten sie das zwar auch schon gemacht, aber damals war es bloß Spiel gewesen, und sie hatten jedesmal laut aufgeschrien vor Begeisterung, weil sie noch nicht gelernt hatten, sich von außen zu betrachten, und noch kein Bild von sich hatten. Nun aber betrachteten sie sich allesamt von außen, permanent, in jeder Sekunde, wie sie in der Schulbank saßen, wie die Bluse sitzt, wie der Gesichtsausdruck sitzt, wie die lässige Bewegung beim Greifen nach dem Füller wirkt, die eigentlich Ablehnung
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