Die Straße - Roman
eigentlicher und zwingender war als die hiesige, in der sie der Oberfläche nach zu urteilen doch jeden Tag lebten und arbeiten gingen, kochten und ihre Pflanzen gossen etc. Aber offenbar lebten sie ganz woanders und unter einem anderen Gesetz, das tagsüber nicht sichtbar war.
Wie die Mädchen früher von der Schule nach Hause gekommen waren und eigentlich kein Interesse an den Schulaufgaben gehabt hatten, sondern sich viel lieber mit ihren Freundinnen treffen wollten, um gemeinsam mit Puppen zu spielen oder Weihnachtssterne zu basteln oder Ostereier zu bemalen, so kamen sie jetzt von der Schule nach Hause und hatten nur im Kopf, sich am Nachmittag dort und dort mit dem und dem oder der und der zu treffen und bestimmte Kleidungsstücke zu tragen und mit den Freundinnen über ganz bestimmte Jungs oder irgendwelche Amerikaner oder über dieUSA generell bzw. über irgend etwas anderes, das im Bezug zu diesem ganzen Thema stand, zu reden. Und die Mütter führten die immergleichen, nutzlosen Gespräche, die schon ihre eigenen Mütter mit ihnen geführt hatten, wenn auch mit anderem Wortlaut und fünfunddreißig Jahre zuvor, mußt du denn immer hinausgehen, kaum bist du zu Hause, du bist doch eben erst aus der Schule gekommen, was gibt es denn so Wichtiges, daß ihr euch jetzt gleich schon wieder treffen wollt, ihr habt euch doch eben erst in der Schule gesehen, du könntest mir wenigstens beim Mangeln helfen, wer ist denn dieser Richy, von dem die Elke erzählt hat, was ist das überhaupt für ein Name, kennst du den, ist der auf deiner Schule, wir haben früher unserer Mutter immer bei der Wäsche geholfen, wir hatten damals noch keine Waschmaschinen wie heute, wir mußten alle um fünf Uhr früh raus, wenn gewaschen wurde, egal ob Ferien oder ob wir Schule hatten, darauf nahm keiner Rücksicht, wir konnten damals nicht den ganzen Abend draußen herumfliegen, wo seid ihr eigentlich abends immer, ihr sitzt doch nicht bei der Tina herum, da hat dein Vater gestern angerufen, da wart ihr doch gar nicht! Und die Töchter sitzen dabei und ziehen die Augenbrauen hoch und wissen nicht, ob sie das wirklich glauben sollen: wie es früher einmal gewesen sei. Denn wenn die eigenen Mütter tatsächlich auch einmal jung gewesen sein sollten (was denmeisten Töchtern allerdings außerhalb jeder Vorstellungskraft liegt), dann werden sie ja wohl auch opponiert und ihre eigene Freiheit gewollt haben, um mit Jungs auszugehen und all das, denken die Töchter und hören den Sermon der Mutter an, die ihrerseits fünfunddreißig Jahre zuvor genau dasselbe gedacht hatte, wenn sie den Sermon ihrer eigenen Mutter, also der Vorvorgängergeneration, hatte anhören müssen. Nämlich ob ihre Mutter früher nicht auch einmal jung gewesen sei et cetera ad infinitum .
So sitzen sich beide Parteien gegenüber und wissen: Wir trauen einander ganz grundlegend nicht mehr. Ich glaube dir nicht, was du mir sagst, und du glaubst mir nicht, was ich dir sage.
Es standen nun auch immer mehr Jungs vor den Türen der Mädchen. Sie klingelten, mitunter natürlich verschämt, dann wurde von den Eltern geöffnet, und die Stimmung des betreffenden Jungen stürzte erst einmal in den Keller, denn jetzt mußte er durch ein Elterngespräch durch, dabei hatte er doch bloß die Karin oder die Eva treffen wollen, verabredet, wie sie waren. Sie hatten es auf dem Schulhof ausgemacht, kurz vor Pausenende, er wollte sie abholen, und nun steht er hier im Vorraum mit diesen Eltern und wird mit Fragen gelöchert, es kommt ihm vor, als schössen sie ihm mit einer MG ein Sieb in den Leib wie in der berühmten Szene in Der Pate . Diesen Maschinengewehrtod hat er (der Junge imVorraum) hundertmal im Geiste nachgespielt, erschossen wurde er immer wegen des betreffenden Mädchens. Das Mädchen stand seiner Vorstellung nach bei seinem Tod immer dabei und mußte alles mitansehen, und natürlich hatte er sich stets nur ihretwegen erschießen lassen, um zu zeigen, daß er gerade für sie und nur für sie stirbt. Er kann das Zucken recht gut, wenn er durchsiebt wird.
Erst nach einer Weile darf er hinauf in ihr Zimmer, das eigentlich noch ein Kinderzimmer ist, auch wenn die Pferdeposter nun zusehends von anderen Postern ersetzt worden sind, je nach Mädchentypus: Bei den einen durch Kinoplakate von Hair oder Fame , bei anderen durch Bilder von Popstars, vereinzelt kleben auch noch Bravo-Starschnitte an der Wand (aufgezogen auf Pappe), aber die sind bereits älter, denn natürlich liest
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