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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Engel gekämpft, woraufhin ihm dieser seinen Namen gegeben hatte. Dementsprechend verrenkt sah er aus.
    Ich kann mich an eine Situation erinnern, das war allerdings schon etwas später, ich war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, als wir einmal von Bad Nauheim nach Friedberg fuhren und mein Onkel allein auf der Rückbank saß. Wir fuhren über die Bundesstraße. Auf der Höhe der Bahnunterführung nach Schwalheim standen zwei Mädchen an der Bushaltestelle.
    Die Mädchen sahen aus, wie Mädchen damals aussahen. Sie trugen kurze Röcke, darüber weite Jacken, aber unter den Jacken war alles wieder ziemlich kurz. Ich sah die Mädchen, und als wir auf sie zusteuerten, machten sie Autostopzeichen. Meine Mutter reagierte auf diese Autostopzeichen natürlich nicht, so etwas wie die beiden Mädchen am Straßenrand (an der Bushaltestelle), Autostopzeichen machend, war für sie mehr als unzüchtig und konnte in keiner Weise geduldet werden. Was Mädchen! sagte sie. Ich blickte nach hinten und sah, wie mein Onkel, der arme, schaute. Da hatte ich einen Einfall. Moment, sagte ich zu meiner Mutter, halt, das ist die Ina! Die Mädchen sind auf meiner Schule. Das will ich aber nicht unterstützen, daß die hier stehen und Autostop machen, sagte meine Mutter und wollte vorbeifahren. Genau deshalb solltest du halten, sagte ich zu ihr, denn dann weißt du doch immerhin, bei wem Ina und – Kerstin mitfahren. (Ich erfand den Namen Kerstin; die erste kannte ich zwar tatsächlich dem Namen nach, aber sie war überhaupt nicht auf meiner Schule.) Meine Mutter fuhr an die Bushaltestelle heran, und die Mädchen stiegen ein, auf die Rückbank neben meinen Onkel. Nun saßen die beiden Mädchen in kurzen Röcken und mit geöffneten Jacken und überhaupt mit ihren fünfzehn oder sechzehn Jahren und mit dem Duft ihrer Haare und ihrer Gesichter und überhaupt allem, was sie hatten, neben meinem Onkel, sie mit ihm zu dritt auf der Rückbank. Im Rückspiegel sahich sein Mienenspiel. Er wagte kaum hinzusehen. Neben ihm die Mädchen, vor ihm das moralische Weltgesetz (wir). Er schaute ihnen noch nach, als sie am Stadteingang von Friedberg wieder ausgestiegen waren, und seit damals hatte ich immer ein schlechtes Gewissen meinem Onkel J. gegenüber.
    Mein Onkel konnte gar nichts machen. Ich hatte ihn auf die Schlachtbank gelegt, aber den Mädchen muß auch Hören und Sehen vergangen sein während dieser Minuten auf der Rückbank, denn sie saßen in seinem Geruch, und so etwas hatten sie vermutlich auch noch nicht erlebt. Als sie ausgestiegen waren, sah man ihnen immer noch nicht an, wie es gerochen hatte. Sie ließen es sich nicht anmerken.
    Auch bei den Freundinnen meiner Schwester gingen meinem Onkel manchmal die Augen über, aber das war auch bei manchen Vätern dieser Freundinnen so, sie waren einerseits besorgt um die Töchter, die irgendwie immer noch Kinder waren und die mancher von ihnen früher auch gern hin und wieder auf dem Schoß abgesetzt hatte, aber jetzt waren sie alle um die ein Meter fünfundsechzig oder ein Meter fünfundsiebzig groß und konnten nicht mehr auf dem Schoß abgesetzt werden (man konnte sie gar nicht mehr über sich drüberheben), und jetzt waren sie nicht nur Kinder, sondern hatten zugleich auch einen Busen und hatten Augen und Beine und sahen insgesamt so aus, daß man eigentlich lieber gar nichthinguckte. In diesen Jahren habe ich so viele Familienväter wie sonst nie mehr auf die Töchter und die Töchterfreundinnen hinschauen sehen mit dem Versuch, da gar nicht hinzuschauen. Es war ein ähnliches Phänomen des Schauens   /   Nicht-Hinschauens wie unter den verliebten Komplementärgruppen auf dem Schulhof oder dem Schulheimweg, nur daß es hier nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Hier schaute nur einer. Und alle anderen merkten es. In der Regel war es für einen Vater eine Überforderung, eine Tochter mit Freundinnen zu haben. Dazu kam, daß der Drang, das betreffende Mädchen mit seinem Busen und seinen Schultern und seinen Armen irgendwie einmal anzufassen, bei Begrüßungssituationen etwa, fast unüberwindlich wurde.
    Die Ehefrauen waren spätestens ab da schlecht gelaunt für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre, oder vielleicht für immer, und sie beobachteten ihre Männer von nun an genau – nicht, ob diese sie beobachteten wie noch zur Zeit ihrer eigenen Jugend, als sie gerade ihren eigenen Frühling und Sommer hatten, sondern ob die Männer jetzt irgendwelche Mädchen im Alter der Tochter auf der Straße

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