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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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anschauten. Denn eine Zeitlang schauten die Männer dann grundsätzlich nur noch Mädchen in der Altersspanne von etwa fünfzehn bis achtzehn Jahren an. Also Mädchen in dem Alter, in dem die Mütter dieser Töchter ihrerseits genau darauf geachtet hatten, daß jemand sie anblickt bzw. der, der sie anblickt, sie eben nicht anblickt, weil er sie dadurch eigentlich ja noch viel mehr anblickt. Und jetzt, zwanzig Jahre danach, blickten ihre Männer wieder. Aber nicht auf sie. Sondern auf die nächsten. Und die Männer verhehlten es, soweit es ging, obwohl es ihnen anders lieber gewesen wäre, und die Laune der Beteiligten wurde immer schlechter, als hätte man ein Gift zwischen ihnen ausgestreut.
    Bald kam die Zeit, in der die Kleider- und Frisurenfrage zwischen meinen Eltern und meiner Schwester in den Vordergrund rückte. Eines Tages kam sie mit Dauerwellen nach Hause, die eindeutig von dem Film Hair inspiriert waren, der sie damals vollkommen beeindruckte. Manchmal schminkte sie sich. Eines Sonntags, das war schon zur Zeit, als sie die ersten GIs kennenlernte, wurde sie geradezu vom Mittagstisch gejagt. Zum einen hatte sowieso schon Streit geherrscht, weil niemand gewußt hatte, wo sie am Vorabend gewesen war (sie war erst um halb zehn nach Hause gekommen). Zum anderen fiel am Tisch das Wort Hure. Es war möglicherweise tatsächlich nur auf ihre neue Dauerwelle bezogen. Und auf dem Tisch stand ein Sauerbraten, auf den meine Mutter tags zuvor noch alle Aufmerksamkeit verwandt hatte.
    Meine Mutter hat eine Dauerwelle, seitdem ich sie kenne. Das Wort Hure hatte wohl mein Onkelüber dem Sauerbraten gesagt. Er hatte damit allerdings nur ausgedrückt, was alle anderen gedacht hatten. So dienstbeflissen war er allen gegenüber, dann auch noch auszusprechen, was sie dachten. Abends bis halb zehn wegzubleiben und dann nicht zu sagen, wo man war. Das war unvorstellbar, und meine Eltern machten sich sowieso schon längere Zeit Gedanken über meine Schwester.
    Damals, zur Hair -Zeit, als für die Schwester die Haare lang wurden und die ersten Löcher in den Hosen erschienen, was ein Gefühl ungemeiner, geradezu US-amerikanischer Freiheit mit sich brachte – damals lebte meine Schwester für eine Weile, vielleicht waren es nur ein paar Monate, noch in einer zweiten, der Hair -Zeit entgegengesetzten Zeit, einer ganz anderen Epoche. Sie war nämlich von meinen Eltern in eine Zeitmaschine versetzt worden und mußte plötzlich eine Existenz führen, die an die Jugend meiner eigenen Eltern erinnerte, als diese noch unter den Geboten ihrer eigenen Eltern gestanden hatten, also an die fünfziger Jahre.
    Sie wurde jetzt zum einen strikt behütet bzw. wohlverwahrt wie ein Wertgegenstand, den man gegen Diebstahl wegschließt. Die einzige Person, der meine Eltern noch trauten, hieß Ralf Kling, das war der Nachbarssohn. War die Schwester falsch angezogen, konnte es am Sonntagmittag durchaus zu Szenen wie der erwähnten kommen. Meist folgtendem ein hysterischer Anfall meiner Schwester und eine der unzähligen Ankündigungen, mit dem (gerade aktuellen) Amerikaner jetzt endgültig durchzubrennen. Meine Schwester war eine Nutte, wenn sie nur von irgendwem sprach, während ich, drei Jahre jünger, längst ganze Abende außer Haus blieb, ohne daß mich überhaupt jemand fragte, wo ich sei.
    Zum anderen wurden ihr jetzt immer mehr Haushaltsdienste aufgeladen. Sie sollte das Hausfrausein lernen, in Vorbereitung auf ihre künftige Rolle. Die Zeitmaschine war einfach deshalb angeworfen worden, weil für die Tochter jener große Augenblick nahte, der einstmals auch bei den Eltern genaht war: die Heiratsfähigkeit. Diese kam jetzt in raschen Schritten auf meine Schwester zu. Nach dem Essen sollte sie neuerdings immer das Geschirr abräumen, so wie vermutlich meine Mutter immer das Geschirr abgeräumt hatte fünfunddreißig Jahre zuvor. Wir, mein Bruder und ich, sollten ganz ausdrücklich sitzenbleiben, und die Schwester sollte abräumen und dann anschließend auch meiner Mutter beim Küchemachen zur Hand gehen. Wenn ich heute an diese Phase denke, in der meine Schwester zum Teil sogar wirklich tat, was sie tun sollte, dann sehe ich immer jemanden vor mir, der gerade rituell erniedrigt wird. Ich weiß noch, daß mein Bruder und ich immer unruhig wurden, wenn der Arbeitsbefehl an meine Schwester und nur an sie ausgegeben wurde undman uns sagte, wir sollten jetzt bitte sitzen bleiben, das sei Aufgabe der Schwester. Wir blieben natürlich nicht sitzen,

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