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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sondern standen auf, um selbst abzuräumen, und es begannen Diskussionen, die meine Eltern nur verwirrten. Wir konnten nicht akzeptieren, daß man die Schwester plötzlich zu einem Dienstmädchen machte. Wir wollten nicht bedient werden. Damals trugen wir lieber selbst ab, während meine Schwester ihre Dienstmädchentätigkeit bald ganz einstellte und später nie mehr irgend etwas aufräumte, weder im Elternhaus noch in ihren Wohnungen, die die Eltern ihr später alle paar Monate oder Jahre neu anmieteten oder kauften. Seit dieser Dienstmädchenzeit mußten immer andere aufräumen. Seit damals mußte meiner Schwester überall und immer hinterhergeräumt werden, bis heute.

D ie GIs lernte meine Schwester in den Hinterstuben irgendwelcher Gasthäuser kennen, in denen sich die Amerikaner damals kollektiv mit den deutschen Mädchen trafen. In Friedberg existierte ein offizielles Kontaktprogramm. Man saß an Holztischen, der GI dem Mädchen gegenüber, daneben am selben Tisch der nächste GI, ihm gegenüber wieder ein Mädchen, und so durch den ganzen Hinterraum hindurch, die Form des Kennenlernens hatte etwas Serielles. Der Tisch war mit einer alten Tischdecke bedeckt, in der Mitte stand eine winzige Blumenvase mit einer verwelkten Blume vom BlumenKoch auf der Kaiserstraße (die Blume hatte zunächst vorn im Gastraum gestanden und war erst nach hinten gewandert, als sie verblüht war), ein Aschenbecher, Bierdeckel, alles hatte einen gewissen Muff und wirkte schäbig. Die Amerikaner waren nicht beliebt in Friedberg in der Wetterau. Besonders problematisch war, neben den andauernd stattfindenden Schlägereien, die Regelung des Umgangs mit der weiblichen Bevölkerung. Wenn ich damals durch die Altstadt lief, wurde ich hin und wieder von frisch eingetroffenen Amerikanerinnen angesprochen, weiß- wie schwarzhäutigen, die gerade vom Bahnhof kamen und das ihnen zugewiesene Bordell suchten, in dem sie an diesem Tag zu arbeiten anfangen sollten. Im Schnitt waren jedoch zehntausend amerikanische Soldaten in der Stadt, dafür reichten die Bordellkapazitäten bei weitem nicht aus. In diesen Jahren bekam ich erstmals eine Vorstellung von der Notwendigkeit einer Grundversorgung. Die andere Welt war hier an allen ihren Grenzen offen und durchlässig. Man hörte ständig von Auseinandersetzungen vor irgendwelchen Diskotheken, immer ging es um Mädchen, und die Mädchen sollten, hieß es, keinesfalls zu den Amerikanern in deren Autos steigen, dabei war für die meisten Mädchen nichts reizvoller und spannender und abenteuerlicher, als gerade zu den Amerikanern ins Auto zu steigen.
    Vermutlich bekamen die Gastwirte von der amerikanischen oder deutschen Behörde Geld für die Kontaktanbahnungstreffen, die bei ihnen abgehalten wurden. Die GIs kamen selten betrunken zu diesen Veranstaltungen in den Hinterstuben, vielmehr waren sie meistens frisch gekämmt und hatten ein frisches Hemd an, und auch die deutschen Mädchen kamen frisch gefönt und mit ihren besten Blusen, mit Lippenstift und mit Dauerwellen. Meine Schwester hatte bereits Englisch gelernt, und die GIs konnten ebenfalls einige Brocken Deutsch sprechen, einzelneWorte wie Freundschaft, Deutschland, Ausgehen, Liebe, Heidelberg.
    Was das in meiner Familie damals so genannte Amerikanervirus angeht, so sagt die Theorie, das ganze Unglück habe angefangen, als Anfang der siebziger Jahre amerikanische Offiziere ins neugebaute Haus in den Mühlweg kamen, Nachfahren der ehemaligen Bekannten meines Großvaters, die dieser als Oberfinanzpräsident in Frankfurt empfangen hatte, entweder in der Oberfinanzdirektion auf der Adickesallee oder bei sich zu Hause in der Grillparzerstraße. Diese Offiziere müssen in ihren Uniformen auf meine Schwester als kleines Kind in etwa so gewirkt haben wie Lohengrin beim ersten Erscheinen auf seine Umwelt. Meine Schwester saß immer auf dem Schoß dieser Offiziere, heißt es, das gilt in unserer Familie als Beginn der Tragödie.
    Meine Schwester hatte früh damit angefangen, irgendwelche Schauspieler anzuhimmeln, die alle unbedingt aus den USA kommen mußten. Amerikanische Fernsehserien waren ganz wichtig. Bald entdeckte sie, daß es solche Dinge wie Surfen oder den kalifornischen Strand gab, das waren ihre ersten großen Erlebnisse, immer vor dem Fernseher mitten in der Wetterau oder über dem Bravo-Heft (die Bravo beschleunigte laut der Familie den Krankheitsverlauf maßgeblich). Immer wichtiger wurde etwa das Sammeln von Neuigkeiten über

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