Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
amerikanischePopstars. Eine zunehmende Fixierung überhaupt auf ausschließlich amerikanische Hitparadenmusik. Auf die Kleidung amerikanischer Hitparadenkünstler. Dann eine zunehmende Fixierung auf amerikanische Nahrungsmittel, ein ausgeprägtes Talent zur Imitierung der amerikanischen Sprachmelodie. Ihr Englisch klang bereits amerikanisch, bevor sie überhaupt den ersten Satz richtig konstruieren konnte. Ihre Freundinnen verhielten sich teils ganz ähnlich. Sie begannen in Jogginganzügen (die damals neu waren und ebenfalls aus Amerika stammten) um das Kasernengelände herumzurennen, um die Soldaten auf sich aufmerksam zu machen. Das waren die ersten Versuche des Kennenlernens.
    Die meisten Mädchen, die in Friedberg vom Amerikanervirus befallen waren (es waren nicht wenige), endeten später alle auf mehr oder minder gleiche Weise. Einige kamen zu Psychiatern in Behandlung, andere trieben ihre Eltern in den Ruin; ich kenne noch heute eine Frau aus diesem Kreis, die seit ihrem sechzehnten oder siebzehnten Lebensjahr nie etwas anderes als Cowboystiefel getragen hat und sich bis heute nur in Westernclubs aufhält, etwa im Western und Squaredance Club Colorado Ranchers Friedberg e.V. , der sich unterhalb unserer Burg eine Art Westernblockhütte mitten in die Wetterauer Landschaft gesetzt hat, wo sie noch heutzutage ihre Barbecue- und Grillsteakabende und ihre Countrykonzerte veranstalten, zu denen sie dann alle mit Cowboyhüten und Fransenstiefeln aus Wildleder hingehen, als könnte ihnen das irgendwie weiterhelfen. Die betreffende Frau war bereits mit siebzehn ausgezogen, hatte ihre Schulausbildung hingeworfen und sich dann, kaum wohnte sie allein, auf Kosten der Eltern eine Art von Amerika-Ersatzwelt geschaffen, in der jeder Gegenstand bis hin zum Toaster und dem Kühlschrank unbedingt aus den Vereinigten Staaten von Amerika stammen und am besten noch bei den amerikanischen Soldaten im PX, dem Einkaufsgeschäft für die Besatzungstruppe, gekauft werden mußte. Überhaupt war es für diese Mädchen ganz wichtig, möglichst früh auf irgendwelchen Wegen Zugang zum Friedberger PX zu bekommen. Es herrschte eine Art von Wettbewerb unter ihnen, wer zuerst an den Ausweis herankam und wer zuletzt. Wer in das Gießener PX, das zentrale Verteilungslager für ganz Europa, hineindurfte, hatte das große Los gezogen und war noch viel angesehener. Ab da überfluteten US-amerikanische Erdnußpasten und Ahornsirupflaschen, Marshmallows und dergleichen mehr auch unseren Haushalt, und auch die Coladose durfte keinesfalls mehr aus einem deutschen Vertrieb stammen, denn nur die original in den Staaten, also in Übersee, abgefüllte Coladose war eine echte und brachte das ersehnte Glück in die Wetterauer Welt. Ganze Nachmittage verbrachten sie in ihrem Post Exchange Store , wie der PX vollständig hieß, und hatten dort ihre Kontakte und konnten unter den Soldaten verkehren, als Ausbruch aus der Wetterauer Welt, in die sie hineingeboren waren und die nirgends die Aufschrift Made in USA trug.
    Made in USA war so entscheidend wie für andere in der Wetterau damals noch die Absolution bei der wöchentlichen Beichte und die Hostie in der Kirche, also der Leib des Herrn. Alles, was Made in USA war, war von einer Aura umgeben, einem Heiligenschein, und der PX (bei uns sagten sie der PX , andere sagten die PX , wieder andere das PX ) war ja exterritoriales Gelände, also gar nicht mehr Deutschland, sondern selbst schon Amerika und somit eigentlich bereits das Heilige Land.
    Da sie noch keine Autos hatten, weil sie ja nach wie vor erst sechzehn oder siebzehn waren, mußten die Eltern sie zu den Stores bringen, aber besser war es schon, man kannte einen Soldaten, mit dem man dorthin fahren konnte, denn dann gehörte man erst wirklich dazu. Ohne einen amerikanischen Soldatenfreund ging in diesen Kreisen eigentlich gar nichts. Sie waren verrückt nach ihnen, und ich weiß noch heute, wie es sich anfühlte, wenn sie von ihnen sprachen. Sie waren wieder in ihrem Rausch, die Welle hatte sie erneut überkommen, nur hatte sie sich wieder transformiert und einen neuen Gegenstand gefunden. Wenn sie PX sagten, merkte man, wie wichtig es für sie war, das Wort in einem Satz untergebracht zu haben, und auch das Wort Barracks sagten sie immer so, als gehörten auch sie schon ganz dazu, zu den Barracks und eigentlich damit schon fast zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie sagten Barracks mit einem immer ganz besonders kaugummiartigen Sprechton, in den

Weitere Kostenlose Bücher