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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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das?
    Ich weiß nicht.
    Werden sie sie essen?
    Ich weiß nicht.
    Sie werden sie essen, stimmt̕s?
    Ja.
    Und wir konnten ihnen nicht helfen, weil sie uns sonst auch essen.
    Ja.
    Deswegen konnten wir ihnen nicht helfen.
    Ja.
    Okay.
     
    Sie kamen durch Kleinstädte mit auf Reklametafeln gekritzelten Warnungen, die Leute fernhalten sollten. Die Reklametafeln waren mit einer dünnen weißen Farbschicht über-strichen, damit man darauf schreiben konnte, und durch die Farbe konnte man ein blasses Palimpsest von Werbung für Güter erkennen, die es nicht mehr gab. Sie saßen am Straßenrand und aßen die letzten Äpfel.
    Was ist denn?, fragte der Mann.
    Nichts.
    Wir finden schon was zu essen. Keine Sorge.
    Der Junge gab keine Antwort. Der Mann musterte ihn.
    Das ist es nicht, oder?
    Ist schon gut.
    Sag̕s mir.
    Der Junge wandte den Blick ab, schaute die Straße hinun-ter.
    Ich möchte, dass du es mir sagst. Es ist okay.
    Er schüttelte den Kopf.
    Sieh mich an, sagte der Mann.
    Er wandte sich ihm zu und sah ihn an. Er sah aus, als hätte er geweint.
    Sag̕s mir einfach.
    Wir würden nie jemanden essen, oder?
    Nein. Natürlich nicht.
    Auch wenn wir hungern?
    Das tun wir doch gerade.
    Du hast gesagt, das würden wir nicht.
    Ich habe gesagt, wir würden nicht sterben. Ich habe nicht gesagt, wir würden nicht hungern.
    Aber wir würden es trotzdem nicht tun.
    Nein.
    Ganz gleich, was passiert.
    Nein. Ganz gleich, was passiert.
    Weil wir die Guten sind.
    Ja.
     
    Und wir bewahren das Feuer.
    Und wir bewahren das Feuer. Ja. Okay.
     
     
    In einem Graben fand er Stücke von Feuer- und Kieselsäurestein, doch am Ende war es einfacher, mit der Zange von oben nach unten an einem Steinblock entlangzuschrappen, an dessen Fuß er ein in Benzin getränktes Häufchen Zunder gelegt hatte. Zwei weitere Tage. Dann drei. Sie hungerten erbärmlich. Das Land war geplündert, kahl gefressen, verheert. Jeder Krume beraubt. Die Nächte waren entsetzlich kalt und sargschwarz, und die lange Spanne des Morgens hatte etwas fürchterlich Stilles. Wie die Dämmerung vor einer Schlacht. Die wächserne Haut des Jungen war fast durchscheinend. Mit seinen großen, starren Augen wirkte er wie ein außerirdisches Wesen.
     
     
    Er glaubte allmählich, dass der Tod nun doch nahe war und dass sie sich ein Versteck suchen sollten, wo man sie nicht finden würde. Es gab Zeiten, da fing er hemmungslos zu schluchzen an, wenn er den schlafenden Jungen betrachtete, aber das hatte nichts mit dem Tod zu tun. Er wusste nicht recht, womit es zu tun hatte, glaubte aber, es habe mit Schönheit oder mit Güte zu tun. Dinge, über die er gar nicht mehr nachzudenken vermochte. Sie hockten in einem öden Wald und tranken Grabenwasser, das sie durch ein Tuch geseiht hatten. Im Traum hatte er den Jungen auf einem Aufbahrungsbrett liegen sehen und war voller Grauen aufgewacht. Was er am hellichten Tag ertragen konnte, war ihm nachts unerträglich, und so blieb er wach, aus Angst, der Traum könnte wiederkehren.
    Sie durchwühlten die verkohlten Ruinen von Häusern, die sie früher nicht betreten hätten. Eine im schwarzen Wasser eines Kellers zwischen Müll und rostenden Rohren treibende Leiche. Er stand in einem teilweise verbrannten, zum Himmel hin offenen Wohnzimmer. Die vom Wasser verzogenen Dielen zum Garten hin abfallend. Vollgesogene Bücher in einem Regal. Er nahm eines heraus, schlug es auf und stellte es zurück. Alles feucht. Verrottend. In einer Schublade fand er eine Kerze. Keine Möglichkeit, sie anzuzünden. Er steckte sie ein. Im grauen Licht ging er hinaus, blieb stehen und erkannte einen Moment lang die absolute Wahrheit der Welt. Das kalte, unerbittliche Kreisen der hinterlassenschaftslosen Erde. Erbarmungslose Dunkelheit. Die blinden Hunde der Sonne in ihrem Lauf. Das alles vernichtende schwarze Vakuum des Universums. Und irgendwo zwei gehetzte Tiere, die zitterten wie Füchse in ihrem Bau. Geliehene Zeit, geliehene Welt und geliehene Augen, um sie zu betrauern.
     
    Am Rande einer Kleinstadt saßen sie, um auszuruhen, in der Fahrerkabine eines Lastwagens und starrten durch eine von den jüngsten Regenfällen saubergewaschene Windschutzscheibe. Leichter Aschenflug. Erschöpft. Am Straßenrand stand ein weiteres Schild, das vor dem Tod warnte, die Buchstaben im Lauf der Jahre verblasst. Er lächelte beinahe. Kannst du das lesen?, fragte er.
    Ja.
    Achte nicht darauf. Hier ist niemand.
    Sind die alle tot?
    Ich glaube schon.
    Ich wünschte, der kleine Junge wäre

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