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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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die Kerker der Hölle. Er hielt den bis ins Mark frierenden Jungen an sich gedrückt. Verlier nicht den Mut, sagte er. Wir schaffen das schon.
     
    Das Land war zerfurcht, erodiert und öde. In den Auswaschungen verstreut die Knochen toter Geschöpfe. Haufen unbestimmbaren Mülls. In den Feldern Farmhäuser, ihr Anstrich abgescheuert, die Schindeln verzogen und von der Verhütung abgeplatzt. Alles schatten- und gesichtslos. Die Straße verlief leicht abschüssig durch einen Dschungel von totem Kudzu. Ein Sumpf, wo das tote Röhricht auf dem Wasser lag. Jenseits des Randes der Felder hing der trübe Schleier gleichermaßen über Erde und Himmel. Am Spätnachmittag hatte es zu schneien begonnen, und sie gingen weiter, die Plane über die Köpfe gezogen, während der nasse Schnee auf dem Plastik leise zischte.
     
     
    Er hatte seit Wochen wenig geschlafen. Als er am Morgen erwachte, war der Junge nicht da, und er setzte sich auf, den Revolver in der Hand, erhob sich dann vollends und schaute sich um, aber das Kind war nirgends zu sehen. Er zog sich die Schuhe an und trat an den Saum des Gehölzes. Im Osten trübe Dämmerung. Die fremdartige Sonne am Beginn ihrer kalten Bahn. Er sah den Jungen über die Felder angerannt kommen. Papa, rief er. Im Wald ist ein Zug.
    Ein Zug?
    Ja.
    Ein richtiger Zug?
    Ja. Komm.
    Du bist aber nicht nahe rangegangen, oder?
    Nein, nur ein bisschen. Komm.
    Es ist niemand da?
    Nein. Glaube ich jedenfalls nicht. Ich wollte dich holen.
    Gibt es auch eine Lokomotive?
    Ja. Eine große Diesellok.
     
     
    Sie überquerten das Feld und betraten den Wald auf der anderen Seite. Die Gleise kamen auf einem Damm aus dem Lan-desinneren und verliefen durch den Wald. Der Zug bestand aus einer dieselelektrischen Lokomotive, an die acht Passagierwaggons aus rostfreiem Stahl angekuppelt waren. Er nahm den Jungen bei der Hand. Setzen wir uns erst mal hin und beobachten alles, sagte er.
     
    Sie setzten sich auf die Böschung und warteten. Nichts rührte sich. Er gab dem Jungen den Revolver. Nimm du ihn, Papa, sagte der Junge.
    Nein. So war das nicht abgemacht. Du nimmst ihn.
    Der Junge nahm den Revolver und legte ihn sich in den Schoß, und der Mann ging am Bahndamm entlang und betrachtete den Zug. Er überquerte die Gleise und schritt den Zug in ganzer Länge ab. Als er hinter dem letzten Wagen hervorkam, winkte er den Jungen zu sich, und dieser stand auf und steckte sich den Revolver in den Gürtel.
     
     
    Alles war mit Asche bedeckt. Die Gänge zwischen den Sitzen mit Abfall übersät. Auf den Sitzen lagen aufgeklappte Koffer, die schon vor langer Zeit von den Gepäcknetzen gehoben und geplündert worden waren. Im Speisewagen fand er einen Stapel Pappteller, pustete den Staub davon weg, steckte sie in seinen Parka, und das war alles.
    Wie ist der hierhergekommen, Papa?
    Ich weiß nicht. Irgendwer ist wohl damit in Richtung Süden gefahren. Eine Gruppe von Leuten. Und hier ist ihnen wahrscheinlich der Treibstoff ausgegangen.
    Steht er schon lange hier?
    Ja. Ich glaube schon. Ziemlich lange.
     
    Am Ende des letzten Waggons angelangt, gingen sie am Gleis entlang zur Lokomotive zurück und kletterten auf den Steg. Sie schoben sich in den Führerstand, er blies die Asche vom Sitz des Lokführers und setzte den Jungen vor das Führerpult. Das Führerpult war sehr schlicht. Kaum mehr zu tun, als den Handgashebel nach vorn zu schieben. Er machte Zug-und Signalhorngeräusche, ohne jedoch recht zu wissen, was der Junge damit verband. Nach einer Weile schauten sie einfach durch das verschmutzte Glas nach draußen, wo sich die Gleise in einem Bogen in der Ödnis des Unkrauts verloren. Sie mochten verschiedene Welten sehen, doch was sie wussten, war dasselbe. Dass der Zug für alle Ewigkeit hier stehen und verrotten und dass nie wieder ein Zug fahren würde.
    Können wir jetzt gehen, Papa?
    Ja. Natürlich.
     
     
    Von Zeit zu Zeit stießen sie nun auf kleine, am Straßenrand errichtete Steinhaufen. Es handelte sich um Zeichen in Zigeunersprache, vergessene Wegmarken. Die ersten, die er seit einer ganzen Weile gesehen hatte: im Norden durchaus verbreitet, führten sie aus den geplünderten und ausgepowerten Städten hinaus, hoffnungslose Botschaften an geliebte Menschen, die vermisst und tot waren. Zu diesem Zeitpunkt waren sämtliche Nahrungsmittelvorräte erschöpft, und überall im Land griff Mord um sich. Die Welt alsbald fast nur noch von Menschen bevölkert, die Kinder vor den Augen ihrer Eltern auffressen

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