Die Straße
die ihre neuen Decken und die in zusätzliche Kleider gewickelten Einweckgläser enthielt, auf den Weg die matschige Straße hinunter. Er hatte ein paar Arbeitsschuhe gefunden, der Junge trug blaue, vorn mit Lumpen ausgestopfte Tennissschuhe, und sie hatten frischen Betttuchstoff für Mundschutze. Auf der Asphaltstraße angelangt, mussten sie ein Stück zurückge- hen, um den Einkaufswagen zu holen, aber nur knapp anderthalb Kilometer. Der Junge ging, eine Hand an der Schubkarre, neben ihm her. Das haben wir gut gemacht, was, Papa?, sagte er. Ja, das haben wir.
Sie aßen gut, hatten bis zur Küste aber noch einen langen Weg vor sich. Er wusste, dass er sich Hoffnungen machte, die unbegründet waren. Er hoffte, es würde heller werden, wo die Welt doch nach allem, was er wusste, täglich dunkler wurde. Einmal hatte er in einem Fotogeschäft einen Belichtungsmesser gefunden und gemeint, er könne damit über ein paar Monate hinweg Durchschnittswerte ermitteln, und er hatte ihn lange Zeit mit sich herumgetragen, weil er geglaubt hatte, irgendwann vielleicht Batterien dafür zu finden, aber das war nicht der Fall gewesen. Nachts, wenn er hustend erwachte, setzte er sich auf, die Hand zum Schutz gegen die Schwärze auf den Kopf gelegt. Wie einer, der in einem Grab erwacht. Wie jene exhumierten Toten seiner Kindheit, die man umgebettet hatte, um einem Highway Platz zu machen. Viele wa-ren während einer Cholera-Epidemie gestorben und eilends in billigen Holzsärgen beerdigt worden, die verrottet waren und auseinanderfielen. Die nun ans Licht kommenden Toten lagen mit angezogenen Beinen auf der Seite, einige auch auf dem Bauch. Die stumpfgrünen alten Kupfermünzen aus der Lade ihrer Augenhöhlen auf den fleckigen, fauligen Sargbo-den gefallen.
In einer Kleinstadt standen sie in einem Lebensmittelladen, in dem ein ausgestopfter Hirschkopf an der Wand hing. Der Junge betrachtete ihn lange. Auf dem Boden lag zerbrochenes Glas, und der Mann ließ den Jungen an der Tür warten, während er mit den Füßen den Abfall durchstöberte, ohne jedoch etwas zu finden. Draußen standen zwei Zapfsäulen, und sie saßen auf der Betonfläche, ließen an einer Schnur eine kleine Blechdose in den unterirdischen Tank hinab, zogen sie herauf, gössen den Becher voll Benzin, den sie enthielt, in einen kleinen Plastikkanister und ließen sie wieder hinab. Sie hatten ein kurzes Rohrstück an der Dose befestigt, damit sie eintauchte, und kauerten wie Affen, die mit Stöcken in einem Ameisenhaufen stochern, fast eine Stunde lang über dem Tank, bis der Kanister voll war. Dann schraubten sie den Deckel auf, stellten den Kanister auf den unteren Boden des Einkaufswagens und gingen weiter.
Lange Tage. Offenes Land, wo die Asche über die Straße wehte. Nachts saß der Junge am Feuer, die Kartenstücke auf dem Schoß. Er kannte die Namen von Städten und Flüssen auswendig und maß täglich die zurückgelegte Wegstrecke.
Sie aßen sparsamer. Sie hatten fast nichts mehr übrig. Die Karte in der Hand, stand der Junge auf der Straße. Sie lauschten mit heruntergezogenen Kapuzen, konnten aber nichts hören. Dennoch sah er nach Osten hin offenes Land, und die Luft war anders. Dann stießen sie hinter einer Biegung in der Straße plötzlich darauf und blieben stehen, während der Salzwind ihnen durch das Haar fuhr. Dort draußen war der graue Strand, an den unter fernem Rauschen stumpf und bleiern die langsamen Brecher heranrollten. Wie die Ödnis einer fremdartigen See, die sich an den Ufern einer gänzlich unbekannten Welt bricht. Draußen im Watt lag ein Tanker auf der Seite. Dahinter der Ozean, weit, kalt und in schwerfälliger Bewegung, wie ein Fass voll langsam wogender Schlacke, dann die graue Kaltfront aus Asche. Er sah den Jungen an. Er sah ihm die Enttäuschung am Gesicht an. Tut mir leid, dass es nicht blau ist, sagte er. Ist schon okay, sagte der Junge.
Eine Stunde später saßen sie am Strand und starrten auf die Smogwand über dem Horizont. Sie hatten die Fersen in den Sand gestemmt und sahen zu, wie das öde Meer an ihre Füße spülte. Kalt. Trostlos. Ohne Vögel. Er hatte den Einkaufswagen in dem Farndickicht hinter den Dünen stehen lassen, sie hatten Decken mitgenommen und saßen, in sie eingehüllt, im Windschatten eines großen Treibholzstammes. So saßen sie lange Zeit. Entlang dem Ufer der kleinen Bucht vor ihnen im Seetang aufgeworfene Haufen kleiner Knochen. Weiter weg salzgebleichte Brustkörbe,
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