Die Strudlhofstiege
(allmählich aber wurde ihre Stimme doch ein wenig fester und das Pathos, wie es ihr jetzt aus dem Anschaun des eigenen Lebens kam, gab ihr fast so etwas wie einen Standpunkt) . »Und ich wußte, daß mir mit Editha mein ganzes Leben lang eben das und immer wieder nur das und niemals etwas anderes bevorstehen würde. Das wußte ich schon in der Schule. Im Lyzeum. Immer am Rand gehen. Mit Spinnweben gefesselt. Balancieren. Aber keine Hand rühren. Ein böser Traum. Immer schwindlig. Schließlich sind wir in zwei Parallel-Klassen gesetzt worden, weil es die Lehrer mit uns zu schwer hat ten. Wenn englische oder mathematische Schularbeit war und ich statt Editha dort gesessen bin, hab' ich mich so sehr nach meiner ehrlichen Bank im eigenen Klassenzimmer gesehnt und danach, unbekümmert dem Unterrichte folgen zu können und daheim dann mein Pensum zu wiederholen und am nächsten Tag auf dem laufenden zu sein. Aber es war nichts zu machen. Nie hab' ich von Editha erfahren können, was in der Unterrichts-Stunde derweil durchgenommen worden ist. Was sollte ich denn tun, ich konnte auch niemand fragen, ich war ja zugegen gewesen. Ach, das waren hundert drückende Kleinigkeiten, bei Luitlen und daheim; und ich mühte mich durch die Jahre, wie in Schuhen voll Steinchen und Sand. Es besiegte mich. Die englische Arbeit für Editha mußte ja gemacht werden, weil sonst schlechte Noten gekommen wären und Skandal zu Hause. Und dem Papa mußte ja im einzelnen erzählt werden, wie die Neuinszenierung von ›Wilhelm Tell‹ am Burgtheater ausgefallen sei, die ich gar nicht gesehen hatte, weil Editha auf dem zweiten Sitz neben sich jemand anderen haben wollte, und ich mußte rechtzeitig während des letzten Aktes doch hineinkommen, bevor die Gouvernante oder eines von den Mädchen im Foyer unten sein würde, um uns abzuholen. Die Zeit vorher bin ich spazieren gegangen, rasch immer um die Ringstraße, in Angst, daß mich jemand sehen könne, denn in ein Café hab' ich mich nie getraut. Ich hab' meinen Vater nie gemocht, aber daß er nur und immerfort belogen wurde, das kränkte mich. Und zugleich war ich ihm gram und bin's heute noch« (gram, des Gewesenen gedenkend …!), »weil er nichts und nichts gemerkt und mich in einem solchen friedelosen Leben gelassen und es mir mit der größten Selbstverständlichkeit auch für weiterhin zuge mutet hat. Und deshalb bin ich mit Scarlez durchgegangen: fort aus dem Schwindel, aus dem trübsäligen Tappen von einer Lügerei in die andere. Einmal, im Burgtheater, bin ich während des letzten Aktes eingetreten, aber der junge Mann, den Editha neben sich haben wollte und der mich dann immer heraußen erwartete, um mir die Karte zu übergeben, war nicht da. Ein Logendiener gibt mir die Karte, und ich komme hinein und sitze neben einem ganz fremden und neuen Menschen, der mir im Halbdunkeln sogleich die Hand und den Arm drückt. Editha ist nach Schluß der Vorstellung im letzten Moment erschienen, als ich schon ganz verzweifelt allein die Treppen herabkam und unten bereits das Fräulein stehen sah: da erscheint Editha in einer der Klapptüren von der Straße her und winkt mir. Ich weiß bis heute nicht, Editha, wo du gewesen bist, aber dem Jüngling mußt du doch irgendetwas gesagt haben, denn er hat deine zeitweilige Abwesenheit für ganz selbstverständlich gefunden; oder hat er gewußt, daß es jetzt die Schwester ist und sich auf gut Glück so benommen, wie er tat? Es war unmöglich, immer alles das genau auseinanderzuhalten.«
Sie schwieg. Auch die anderen sagten nichts. Anscheinend hielten es Editha sowohl wie Eulenfeld für rätlicher, in diesen aus dem Gleichgewichte geratenen Zustand nicht noch irgendetwas einzuwerfen und hineinzuwerfen, bevor der Waagebalken ausgeschwungen hatte, das Pendel aus den Extremen beruhigter wiedergekehrt war.
Schon setzte Mimi fort.
»Ich war erlöst, dort drüben, mit Enrique, obwohl es mir anfangs nicht gar so gut gefallen hat und mir auch einige Kleinigkeiten fremd oder unverständlich erschienen, obstinate dumme Kleinigkeiten, praktische oder unpraktische; so zum Beispiel, daß die Kinder in den Schulen eine Art weiße AtelierMäntelchen hatten, Guardapolos nennt man's, oder daß die Verkehrs-Polizisten trotz der herrschenden Wärme schwere dunkelblaue Stoff-Uniformen tragen mußten, und daß man bei besonderen Glückwünschen und Jubiläen feierlich verzierte Pergamente schenkt … ich bin auch heute gar nicht so, daß ich bei uns drüben alles großartig
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