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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Jeheim nis. So also verhält es sich mit deme Melzer. Ist vorsichtig. Aber nicht mißtrauisch. Das macht 'n großen Unterschied. Mißtraut gewissermaßen statt den anderen lieber sich selbst. Fürchtet vielleicht, in die eigene diesbezügliche Dummheit zurückzufallen durch 'ne unvorsichtige Bewegung.« Editha sah Eulenfeld erstaunt an.
    Nun, dumm war er ja nicht. Ein alter Husar.
    Und mit Schulsack. Der recht hoch hing.
    Ώ προς θεών (oh, bei den Göttern!). Humanistischer Husar. Hauptbeutel.
    »Scheint mir doch etwas riskiert, die ganze Methode«, sagte Editha.
    »Gar nicht«, erwiderte der Rittmeister. »Solche Dinge werden dann ja nur gestreift, nicht nebeneinander und auseinander gelegt und verglichen und genau festgestellt. Kommt gar nich in Frage. Melzer wird sich sogleich wie'n Krebs zurückziehen. Und dem René nie mehr 'n Wort glauben. Der Mensch ganz im allgemeinen erspart sich gern die genaue Untersuchung jedes Sachverhalts durch Vorwegnahme des Resultates, in Form eines ebenso schnellen wie strengen Urteils. Hat einer nur die notwendigsten sieben Sachen dazu beisammen: schon wendet er sich nach innen, in domum, und vollzieht's, pro domo, versteht sich.«
      Sie schwiegen jetzt lange. Hätte dieses Gespräch einen unbeteiligten Zeugen gehabt: dem wär's jetzt so erschienen, als sei der Rittmeister zuletzt, nach mancherlei Spaß (und nach mancherlei Frechheiten Edithas), wieder in seine Rechte getreten, gleichsam in die Rechte eines Herren über diese beiden Frauen. »Man muß bei solchen Sachen doch immer irgendwie an den äußersten Rand treten, wenn sie wirksam sein sollen«, fügte er noch nach, und zwar im Tone einer wissenschaftlichen, methodologischen Feststellung. »Jeder Schwindel muß in optimaler Annäherung an den Rand des noch Möglichen vollzogen werden, immer in äußerster Randnähe. Ist 'n sojenannter Limes-Wert, wie die Ludolph'sche Zahl und ähnliche Kamellen. Über dem Abgrund des Unmöglichen, des offenkund'jen Widersinnes. Das Wort ›Schwindel‹ selbst hat ja 'n Doppelsinn, der uns dessen am besten belehrt.«
    Und die 2 Pastré hörten wirklich aufmerksam zu. Sonderlich Editha, deren eigenwilliges Quecksilber in diesen Augenblicken gleichsam erstarrt war. Nun, es konnte allerdings jederzeit wieder flüssig werden, dazu brauchte nur die Temperatur des Temperaments um ein geringes zu steigen.
    Mimi indessen, die zuletzt nur mehr als schweigender Dritter der Unterhaltung beigewohnt hatte, wie ein danebenstehendes leeres Becken, in welches spritzte und überfloß, was zuviel, was unbeabsichtigt war: Mimi unterlag indessen einer Wirkung, welcher die beiden diskutierenden Partner nicht im entferntesten gedachten: sie geriet schon wieder in einen Kreisel, Strudel, Miniatur-Zyklon von Vorstellungen und rutschte schweigend immer tiefer und diesmal fast in einen Trichter der Verzweiflung. Da hörte man denn plötzlich süß die Klarinette klagen. Kein Grunzen unterbrach sie. Ein alter Husar schien von Herzen bewegt ihrem einsamen Gange zu lauschen. Und zunächst auch feilte es Editha am Herzen und sie versuchte keine Abwehr dieser Stimme, die ›des Gewes'nen sie gemahnte‹ … Mimi sagte:
    »Otto hat zuletzt die Wahrheit gesprochen. Das ist es. Ein Leben am Rand. Hier muß geschwindelt werden, weil dort schon geschwindelt worden ist und an einem dritten Punkte heißt's auch, à tout prix ohne die Wahrheit auszukommen, weil sie am ersten schon verlassen wurde. Kein Schritt ist frei. Alles hängt mit allem zusammen. Der Boden, auf dem man steht, ist ganz zerfressen, und überall sind Löcher und Gänge wie im Tuffstein. Und feine Spinnweben davor, an die man nicht rühren darf. Denn von ihnen hängt alles ab, sie halten mit ihren ganz schwachen und doch gespannten Fäden den Kaninchenbau noch zusammen, der sonst, jetzt und jetzt, schon in Schutt abrutschen würde. Man geht nicht nur auf rohen Eiern, man schläft auch über Nacht auf einem Lager, das aus rohen Eiern aufgebaut ist, ein Katafalk in Balance, eine Aufbahrung über einem Abgrund. Das Leben hört einfach auf: weil man sich nicht mehr rühren kann und es um keinen Preis mehr tun will und darf und auch die Fliege, die auf der Nase herumspaziert, nicht wegscheuchen, denn diese Bewegung wäre zu viel. Für einen Leichnam, der über einem Abgrund aufgebahrt ist, jedenfalls zu viel. Diese Lügerei und der ganze Schwindel ist am Ende wie Starrkrampf, Tetanus. Ich habe mich als Kind schon entsetzlich davor gefürchtet«

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