Die Strudlhofstiege
wenn sich am Schlüsse herausstellt, daß es gar keine Gleichung, sondern eine Ungleichung war und also der Ansatz eine widersinnige Aussage: denn eben das wollte der Lehrer sehen, ob nämlich der Schüler seines eigenen Rechnens genügend sicher sei, um auch diese Feststellung zu wagen. Der Ansatz aber bleibt unberührt wie eine Jungfer, und von ihm ausgehend muß man hindurch. Jeder geistige Akt ist nur auf absolut konservativer Grundlage rein vollziehbar. Das weiß ich heute. In Ihrer Sprache würde das heißen: ich habe heute nachmittag das Fräulein Grete Siebenschein geheiratet.«
»Noch nicht«, sagte Melzer und schwieg. Er lag auf dem Rücken. Stangelers Reden, die ihm keineswegs mehr unverständlich erschienen, bewegten sich etwa zimmerhoch über ihm, wie helle und schäumende Wasserkringel und Kreise an der Oberfläche, während er selbst hier auf dem schwärzlichen Grunde lag und emporsah. Neben ihm lag Stangeler. Auch dieser auf dem dunklen Grunde, und über ihm, hoch, was er sagte.
»Sie haben hier viel gekämpft«, fing Melzer wieder an, vorsichtig zurücklenkend aus der Tropidonotus-Reservation zu seinen eigenen Sorgen. »Und Sie haben endlich nachgegeben. Sich beschieden. Sie haben ihrer Neigung nachgegeben. Was vielleicht gleich von Anfang an das Natürliche gewesen wäre. Soll man stets seiner Neigung nachgeben? Diesem Wegweiser folgen? Vielleicht geschieht dabei am Ende doch immer noch weniger Unglück, als wenn man sich ihr widersetzt?« Während Melzer, noch redend, jetzt dahinterkommen mußte, daß er versuchte, sein Gespräch mit dem Herrn E. P. vom Samstag vor acht Tagen hier einfach mit einem anderen (und dem eigentlichen!) Partner fortzusetzen, war bald aus Stangeler's Worten zu hören, daß er sich mißverstanden fühlte: »Ich habe meiner Neigung nicht nachgegeben – denn ich stand am springenden Punkte gar nicht unter ihrem Druck – sondern ich habe sie endlich eingeholt. Und jetzt vertraue ich diesem Wegweiser, wenn anders Sie es schon so nennen wollen, Herr Major. Allerdings bin ich seit heute nachmittag der Meinung, daß man ihm folgen soll und muß, seine Richtung interpretierend. Alles andere ist Revolution, Veränderung des gegebenen Ansatzes durch des Schülers stümperhafte Hand, also ein heilloser Start. Aber, was Ihren Wegweiser anbelangt, so gibt es hier einen schweren Vorbehalt, wie ich neuestens ebenfalls weiß.«
Nun endlich fiel die Unterhaltung in Melzern erwünschte Geleise, er .merkte es genau: daß die eigentliche Fortsetzung seines Beisammenseins mit E. P. am Abend des 22. August jetzt und hier erfolgte und mit einem Schritt, den René über jenes damalige Gespräch hinaus tat und den der erste Partner vielleicht nicht vermögend gewesen war zu tun. Und wieder hielt Melzern eine aus der innersten Kammer kommende Vorsicht versammelt und beisammen, den alten Krebs Melzerich unter dem Steine. Er sagte etwa: »Und welcher Vorbehalt wäre das?« Kein Wort drüber. Mehr war ihm nicht abzugewinnen. Kein Wort drüber. Allen Ernstes. Als ginge es um's Leben, wie bei jenem Krebs, im Bach, den die Buben entdecken könnten. Da, jetzt: Stangeler sprang ein, schnappte ein, ließ sich ein. Wie schwer ist das Gegenteil! Vielleicht die achtungswerteste geistige und höchstpersönliche Leistung überhaupt. René erbrachte sie nicht. Ihm fehlte der Überblick. Er, der sich zur Not noch der Mitteilsamkeit im allergröbsten enthielt – hat er nicht heute nachmittag erst der Paula Pichler gesagt »wenn ich mich hineinmische und was dazu tue, dann sehe ich gar nichts«!? – er intervenierte (wie ein Negria!), er pfuschte, er übte Einfluß aus, ja fast Zwang, er hielt seine Zunge nicht im Zaum und ließ sie so etwas spielen wie ein Zünglein an der Waage:
»Der Vorbehalt ist«, sagt' er, »daß der Wegweiser, der Kompaß, die Magnetnadel, daß dieser ganze Apparat selbst nicht gestört und nicht verstört sei, zuckend, statt zeigend, wirbelnd, statt weisend.«
»Und wodurch wird er gestört und verstört?« fragte Melzer, schon zuversichtlicher; er sah ja, daß es jetzt vorwärts ging.
»Dadurch, daß wir ihm zu viel Beachtung schenken«, antwortete René.
Mit ungeheurer Deutlichkeit fühlt' es jetzt Melzer, wie sie gleichsam unterhalb dieser Unterredung lagen, wie sie über ihnen im Hellen trieb. Er, Melzer, befand sich da über seinem militärischen oder zivilen Verstand oder er lag, wenn man will, unterhalb seines eigentlichen Verstandes auf dem Bärenfelle von der Treskavica.
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