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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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wunderte sich (genau über das gleiche wie wir: denn zweifellos attrappieren wir ihn hier zum ersten Male dabei, daß er eigentlich etwas sagt, einer Meinung allgemeiner Art Ausdruck verleiht, sozusagen theoretisch redend – hatte hier der neue Zivilverstand bereits die Wortgrenze überschritten?). Er wunderte sich auch über die Festig keit, mit welcher er jetzt eben gesprochen hatte, und er fühlte unter dieser einen tieferen Grund noch als Erfahrung und gesunder Verstand gewährten. Und zugleich wußte er – vielleicht zum ersten Male im Leben – von eigenen Worten, daß sie durchaus seine eigenen waren und nicht sozusagen Zitate, wie die Aussprüche des E. P. oder überhaupt nur nachgeahmte und berauschende Bewegungen, wie jene Meinungen beim Ausbruche des Krieges 1914 in der Offiziersmesse von Trnowo an der Jelesnitza: sozusagen sprachliche Schnäpse.
    »Das kann ich mir nicht recht vorstellen …«, sagte Stangeler unsicher, der hier an einem schwachen Punkte sich recht energisch getroffen fühlen mußte: ohne Absicht war's geschehen, denn der Major wollte ganz wo anders hinaus, und René hatte ihm durch die Riegel seiner knappen Antworten den Weg versperrt. Indessen, plötzlich war es dem René gelungen, den von Melzer fixierten Punkt in sein Indianer-Territorium (es war dasjenige der Tropidonotus-Indianer) mit einzubeziehen. Er bemerkte kurz und bündig: »Wir meinen beide dasselbe, Herr Major.«
    Hier durfte Melzer ohneweiteres um Aufklärung bitten, wenn man auch, wie ihm schien, damit von jener Richtung noch mehr abkam, welche er dem Gespräche ursprünglich hatte geben wollen. Aber Stangeler faßte sich verhältnismäßig kurz:
    »Wenn Sie eine heiraten«, sagte er, »dann nehmen Sie damit die Person der betreffenden Frau samt allen äußeren und inneren Umständen der Beziehung zu ihr auf sich, das Schädliche dabei ebenso wie das Förderliche, alles in allem. So wie es ist. Ihre Wünsche können dann nichts mehr arrangieren. Sie haben solche Verhältnisse ab da ganz ebenso wie einer etwa braune Haare hat und blaue Augen. Sie dürfen ruhig auch das Schädliche sehen, meinetwegen das Heillose. Ihr Kompaß hat Sie da hineingeführt, und Sie dürfen, ja Sie müssen glauben, daß er Sie hindurchführen werde. Wenn Sie das Verfehlte wirklich klar und wahrheitsgemäß sehen, aber nicht dagegen revoltieren, sondern damit leben wollen, dann ist es nicht mehr verfehlt, denn Sie haben es in den Kern getroffen. Außerdem können Sie unmöglich wissen, wozu es Ihnen dient. Der Rittmeister hat mir einmal gesagt, daß ein dummer Mensch, der von seiner Dummheit wisse, damit allein schon so gut wie sehr intelligent sei. Ein solcher könnte sich sogar die Frage vorlegen – und er wird es wahrscheinlich tun –, was seine eigene Dummheit für ihn eigentlich bedeuten solle, warum sie ihm denn auferlegt sei? Damit befindet er sich außerhalb derselben. Loswerden kann er sie nicht, er kann sie nicht weghacken, amputieren. Aber jedes klare Erkennen wirkt stärkend: ich meine damit, man soll es nicht scheuen, weil es immer auch gleich die Kraft vermittelt, das Erkannte zu tragen, sei es wie es sei. Bis auf gewisse Grenzfalle vielleicht. Aber solche werden denjenigen nicht betreffen, der sich rechtzeitig bemüht hat. Das Leben wird ihn nicht gleich nach der Erkenntnis und durch dieselbe niederrennen, sondern es wird ihm den Spielraum gönnen, die Lust der Erkenntnis zu genießen. Diese Lust ist sehr groß. Bei allem muß Lust sein, man braucht sie zum Leben wie die Luft. Bei allem. Sei das jetzt ein gutgezielter Bogenschuß oder eine ergreifende Leichenrede oder der Aufmarsch einer Schwadron zum Attackieren. Nur wer Lust empfindet, beherrscht da die Lage, und umgekehrt. Noch empfindet er Lust, noch beherrscht er die Lage: das Leben hat ihm noch einmal den Spielraum gelassen. Jene Lust ist die Wollust, welche bei der Vermählung des Lebens mit der Erkenntnis entsteht. Fehlt sie, dann steht das Wissen in den leeren Raum wie abgebrannte Dachsparren. Aber zum Erkennen wird vorausgesetzt, daß man eine Sache so sein läßt, wie sie nach ihrem Wesen sein will, ohne daran herum zu zerren und zu zupfen, zu hacken, zu glätten oder zu schlichten, oder das Ding überhaupt loswerden zu wollen. Wenn in der Mathematik-Stunde der Lehrer einen Ansatz an die Tafel schreibt, dann muß der Schüler rechnen, wie's aufgegeben ist und kann nicht verlangen, daß dort aus 16b ein 4b2 gemacht werde oder aus 12 xy ein 3 yz. Er muß rechnen, auch

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