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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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falsche war, jene, von der Stangeler am Mittwoch gesprochen hatte. Aber noch war der Registrier-Apparat in Tätigkeit, die jüngst verwichene Zeit betreffend:
    »Übrigens glaube ich, daß es bestimmt Konietzki war, der Ihnen am Montag vor acht Tagen vormittags auf dem Graben begegnet ist und Sie gegrüßt hat«, sagte er. »Sie haben ihn nur nicht erkannt, es ist Ihnen der Name nicht eingefallen – und mir, glaube ich, dann auch nicht, als Sie's erzählten, nach unserem seltsamen Zusammentreffen auf der Strudlhofstiege. Am darauffolgenden Freitag war im Café Pucher dann eine große Corona alter Bekannter; es war von allem möglichen die Rede, und ich habe vergessen, Konietzki zu fragen.«
    »Mag sein«, sagte sie. »Aber ich hab' ihn wohl überhaupt nicht erkannt, es war vielleicht nicht nur so, daß mir der Name fehlte. Ich habe ihn wohl gar nicht als bekannt empfunden …« Sie hielt den Blick vor sich auf den Weg. Der war breit, grad und führte durch Buchenwald, wellig auf und ab. »Sehen Sie«, fügte Editha beiläufig hinzu, »mit der Budau ist es mir ja fast ähnlich ergangen, im Kursalon. Ich meine die Ingrid Schmeller. Ich hab' Ihnen das ja erzählt. Man erinnert sich keineswegs immer, man kommt nicht immer auf das Richtige. Man will vielleicht des Gewesenen keineswegs zu jeder Zeit gemahnt sein.« Die letzten Worte sagte sie langsam, beinah pathetisch, aber nicht laut, sondern im Ton einer sanften Klage. Der Wald stand lichtstämmig. Man sah in sehr gedehnte Räume dieses Waldes, der zu beiden Seiten des breiten Rückens, auf welchem sie dahingingen, sanft absank. Es war Melzern, als fühlte er Edithas Wesen in irgendeiner Weise erweitert, als träte er in neue Hallen bei ihr ein, ungewiß, was er dort finden würde. Ganz plötzlich dachte er klar, daß in seinem ganzen bisherigen Leben doch nichts darauf hingewiesen habe, daß er jemals in eine so unbegreiflich nach den verschiedensten Richtungen ihn auseinander ziehende Lage gera ten würde, und zugleich fühlte er viele kleine Unstimmigkeiten dieser Lage (und übrigens auch fast aller Worte Edithas), ohne sie benennen und genau an ihren gehörigen Ort bringen zu können: sondern nur wie Sand im Schuh. Als Editha jedoch die Budau heraufzitierte, empfand er etwas wie Schwindelgefühl, dachte an die Geier hoch über der Treskavica, und dann streifte ihn einen Augenblick hindurch jenes ausweglose Grauen, das man im Traume empfinden kann, über einem Abgrunde hängend.
    Aber es war nicht in geordneten Worten (wie wir's hier sagen müssen), wenn er jetzt an Stangeler dachte, und etwa: »Er hat recht. Sie haben kein Gedächtnis. Und so etwas stellt dieser Mensch in aller Ruhe fest.«
    Melzer und Editha waren hinter der anderen Gesellschaft erheblich weit zurückgeblieben, und der nicht geringe Lärm, welchen jene dort vorne gelegentlich in des Waldes hallenden Räumen vollführten, ward schwächer und schwächer.
    Jetzt sprach sie, Editha, eigentlich zum ersten Mal etwas mehr.
    »Aber mitunter«, sagte sie, »denk' ich an einzelnes schon sehr lebhaft zurück. Deshalb hab' ich nach Konietzki und Langl gefragt. Erinnern Sie sich an die vierzehn Tage auf der Villa Stangeler, Melzerich?« (Es tat ihm jetzt wohl, daß sie diese Namensform gebrauchte, ihm war, als würde er auf bekannteren Boden zurückgenommen, als hätte er ihn jetzt wieder unter den Füßen.) »Manchmal schon, da denk' ich zurück. Nicht gerne, meistens. Außer wenn es ganz von selbst kommt. Aber ich liebe es nicht, wenn man mich daran mahnt, an das Gewesene. Wissen Sie, Melzerich, daß wir dort einmal allein miteinander spazieren gegangen und auf einer Bank gesessen sind, über der Villa, am Waldrand? Vor vierzehn Jahren, es ist grad so lange her. Es war im August 1911. Ein schöner Tag mit weiter Aussicht.« Ihre Stimme dämpfte sich mehr und mehr. Sie hielt im Gehen inne. Es blieb jetzt vollends still hier, man hörte nicht mehr die Gesellschaft von vorne, welche eine ansteigende Stelle des Bergrückens überschritten hatte und außer Sicht gekommen war.
    Melzern schwindelte. Wie jetzt und hier über diesen welligen Kamm, so ging es dahin durch das wechselnde Profil dieses Nachmittages, eine Berg- und Tal-Bahn. Es mußte irgendwann einen Tag in seinem Leben gegeben haben, dessen Zustände und Verfassungen auch so auf und ab gestiegen waren; er suchte ihn, schnell, eines Gedankens Länge hindurch, er fand ihn nicht. Hier bot sie es, das Gemeinsame, Gewesene, das er von ihr zu fordern schon

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