Die Strudlhofstiege
lange aufgegeben hatte, den Boden, auf welchen sie beide treten konnten, aber nun zauderte er mit Schrecken und als sollt' er einen Schritt in die Luft tun. Er krampfte sich um diese Leere zusammen: einen Augenblick stand sie in ihm …
»Setzen wir uns ein wenig, Melzerich«, sagte sie, »und lassen wir die dort vorne rennen. Sie werden schon einen Tisch reservieren und auch was zu essen für uns. Machen wir uns selbständig. Dort links geht es steiler bergab, da hört der Wald auf, da muß eine herrliche Aussicht sein. Gehn wir hin?« »Ja«, sagte er, und zugleich schoß es von allen Seiten in die Leere und schloß sie. Ihre Worte, wenn auch irgendwie unecht und jetzt wie hintennach entlehnt, aus einer in diesem Sommer erst gewachsenen Vergangenheit und Gemeinsamkeit, vermochten das gleichwohl, und so erwies sich jene schon stärker als alles, was aus der Tiefe der Zeiten kam, was Melzer vergeb lich hatte in Editha beleben wollen, was sie ihm jetzt ganz unvermutet zu bieten willens gewesen war: aber wesentlich nur mit dem Ergebnisse, daß ihn als eine fast grauenvolle Launenhaftigkeit anwehte dieses sich nun plötzlich Erinnernkönnen und -wollen … Indessen aber, noch bevor sie, quer durch den weglosen Wald schreitend, darin der Boden teilweis bedeckt war von den glatten, breit gewordenen Blättern des wilden Knoblauchs, an den Abbruch und Rand gelangten, war die Leere geschlossen, erglühte der Kern, stand die Aura um Editha. War die Flucht gelungen, erschien's als keine Flucht mehr, verklang das verfolgende und nun augenblicks vergessene Bäh, Bäh! Ihre Stimme aber, Edithas Stimme, ganz weich neben ihm: »schön, wie schön!« Und Melzer, der wußte – mit voller Sicherheit – daß nun alles vollzogen und schon vollendet war, sah mit einem erglühenden Blicke hinaus in die bis an den Himmelsrand gewellte spinatgrüne Erhabenheit, welche diesen Blick unverzüglich abwies, zerspellte, auf seinen zukömmlichen Gegenstand zurückschlug. Unmittelbar danach lagen sie einander in den Armen, und der Duft aus ihrem Munde, der blonde, milchige Duft, schlug alles in ihm nieder und kurz und klein und zusammen, was da hatte sich in Gegensätzlichkeiten spreizen wollen, siegte sofort, wie ein großer in die Schlacht eingreifender Held, während Edithas dicht an ihn gedrängter Körper seine Macht noch kaum in's Bewußtsein hob und doch an tausend Stellen schon alle Außenwälle brach oder überstieg.
Sie blieben lange so stehen. Und fraßen sich – so fühlt' es Melzer – immerfort küssend durch den aus einem ganzen Sommer aufgehäuften süßen Brei bis zum Tor des Schlaraffenlandes der Liebe.
Edithas Freude war offenkundig, springlebendig, fast laut: »Du dummer Melzerich! Du dümmster aller Melzeriche! Endlich! Aber das muß ein Fest werden zwischen uns! Nicht so geschwind von heut auf morgen! Das muß vorbereitet werden. Oh, wir lassen uns Zeit, ja? Und dann wirst du kommen, dann wirst du zu mir kommen, ja …?«
»Und ob ich kommen werde!« sagte er, und mit Festigkeit. »Jetzt ist so eine dumme Zeit«, fuhr sie fort. »Alles mögliche ist los. Wir werden uns einen Tag wählen, für unser Fest, ja? Und dann darauf zu leben. Es gibt nichts schöneres. Ja? Bist du einverstanden?!«
»Ganz«, sagte Melzer. »Du wirst den Tag bestimmen.«
Im Restaurant, bei dem sie auch die Wagen stehen gelassen hatten, saß die Gesellschaft um einen behaglichen Tisch und wartete auf das Essen. Alle schienen Höpfnern ihr Gehör zu schenken, und auch Editha und Melzer, deren separiertes Kommen mit keinerlei Bemerkung hervorgehoben ward, gliederten sich da alsbald ein. Was an Höpfner sofort auffallen mußte, war, daß dieser riesenhaft gebaute Mann aus einem ganz kleinen Mund redete, welcher die flüchtige und bagatellisierende Sprechweise, wie sie der oberen Gesellschaftsschichte zu Wien eigentümlich ist, jedoch mit einem Unterton von Gründlichkeit entließ, nicht abgerissen und zerfahren, sondern immerhin in ganzen Sätzen: löchelnden und lächelnden Mundes. Der Oberkörper Höpfners hing beim Reden über den Tisch vor, er machte einen Buckel, sank ein wenig in sich zusammen: aber doch mußte ein hier Eintretender vor allem einmal Höpfnern wahrnehmen – so gewaltig waren Schultern und Brustkasten. Sie drängten alle Anwesenden gleichsam weit auseinander. Auch Editha und Melzer hatten bei ihrem Eintritte das Bild so empfangen. Höpfner redete klug, niemand konnte an seiner Intelligenz zweifeln; niemand aber auch daran,
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