Die Strudlhofstiege
frei wäre und er in's Vorzimmer her austreten dürfe. Damit verschwand er in seine Räume. Ihm schien's plötzlich allerhöchste Zeit, allein zu sein mit dem Tumult, der ihn überfüllte, und er warf sich, wie er war, tiefatmend auf das Bärenfell. Er blieb zunächst so. Ihm ekelte nicht vor Marys Blut an seinen Kleidern. Aber ein Schrecken packte ihn: fertig und nicht mehr rückgängig zu machen, rasch und groß vor ihm aufgewachsen, stand seine Gemeinsamkeit mit Thea: durchaus ein ›Wir‹; und so hatte er mit ihr seine Wohnung betreten. Nun aber, da sie sich, von ihm getrennt, sozusagen in den Händen der Rak befand, wurde alles furchtbar fraglich, ja, bis nahe an den Einsturz dessen, was in den letzten Minuten ihm schon selbstverständlich gewesen war, nicht mehr und nicht weniger als das. Melzer hörte jetzt die Schritte und Stimmen draußen. Er sprang auf, in furchtbarer Angst, und griff an sein Herz, wie in der ersten Leere eines unvorstellbaren Verlustes. Es wurde still im Vorzimmer. Er lauschte, seine Knie bebten. Nun atmete er tief. Die Angst verlief sich, ihr zudeckender Guß war vorbei. Er drehte den Schlüssel in der Türe und warf im Schlafzimmer rückwärts alles ab, was er auf dem Leibe trug. Auch dieser war blutbeschmiert, an den Knien sonderlich, wo der Stoff des Anzuges direkt auf der Haut gelegen hatte und in der Blutlache durchweicht worden war; jedoch auch sonst; die Arme bis zur Beuge. Die Schenkel bis an die Leisten. Die Wäsche braunrot, sie hatte angeklebt. Es war Marys Blut. Es hatte ihn festgehalten auf der Stelle, an dem Platze, zu dem auch Thea gekommen war. Er raffte das seidene Hemd, das er an diesem Tage getragen hatte, nochmals auf, vom Boden, preßte die blutigen Stellen vor's Gesicht und küßte sie. Dann sprang er zum Tischchen zwischen den Fenstern, wo neben anderen Dingen der Toilette auch eine gerade Schere lag. Aus dem blutigen unteren Teil des Hemdes schnitt Melzer einen schmalen handlangen Streifen. Etwas von dem Blute Marys, das sie an diesem Tage vergossen, sollte bei ihm bleiben für immer. Wohin nun damit, wo es aufbewahren? Er ging, wie er war, durch die beiden Zimmer. Die Bücher in der Nische mit den Säulchen! Er zog einen Band heraus. Melzer öffnete; er las: Oh ténébreux et troubles, nos cœurs humains, même les plus sincères! Hier legte er das seidene Streifchen ein, das braunrote vom trockenen Blut, wie ein Lesezeichen. Es klopfte an der Türe. Er begriff in diesem Augenblicke erst den gelesenen Satz: und allzugut, diesmal.
Als Melzer vom Badezimmer zurückkehrte, kam eben das Mädchen der Frau Rechnungsrat heraus mit allen Sachen über dem Arm, die der Major abgeworfen hatte. Sie trug auch seine braunen Schuhe, in der rechten Hand, die Spitzen standen Melzer entgegen, und er bemerkte, daß sie gleichfalls blutbeschmiert waren. Ob sie bald den Tee bringen dürfe? fragte das Stubenmädchen und setzte, wobei sie ein wenig, aber bescheiden, lächelte, hinzu: »Das Fräulein ist schon fertig.« »Ja«, sagte Melzer, »aber ich muß mich erst anziehen. Ich werde zweimal läuten, wenn ich fertig bin, ja?«
Er machte seine Toilette rasch und geläufig (es ging auch alles sehr glatt, kein Knopf spießte sich, kein Schuhriemen strebte an der Öse vorbei), aber mit großer Sorgfalt. Warum soll man's verschweigen! Es war nicht einmal dumm von ihm. Man muß nicht Gustav Wedderkopp heißen, um ›gar nicht dumm‹ zu sein. Es ist dieses kein ausschließliches Vorrecht der Wedderköppe. Sondern, kurz und gut: wie wir alle. Melzer sah auch in den Spiegel. Er trug jetzt ein violettes Hemd à la Konietzki. Vor dem Klingelknopf zögerte seine Hand. Es entstand ein Wirbel um den Knopf, ein kleiner Zyklon, ein saugender, als werde die Zeit zornig wegen seines Zauderns. Er drückte zweimal und sah sich dann im Zimmer um. Der Kaminsims mit je einem Aschenbecher links und rechts am Ende, sonst leer. Standuhr gab es dort keine (sie hätte bald auch wahrlich keine Stunde zu schlagen gehabt). Nah über Bärenfell und Boden, ohne Stuhl oder Gebets-Teppich, der kleine Wandarm, durchaus sichtbar: mochte er! Melzern gefiel das Ding jetzt sogar. Thea würde vielleicht fragen, und er konnte ihr dann sagen, wie das gemeint sei. Diese Vorstellung erwärmte ihn plötzlich sehr. Außerdem wäre ja Thea bald mit E. P. und seiner Frau bekannt zu machen. Ein Ruck, halt! Nun schon war er wieder draußen über dem Rande der Wirklichkeit, der Spalt zwischen ihm und jener wollte sich wieder
Weitere Kostenlose Bücher