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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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der jetzt noch seienden Lage (daß sie einander noch nicht in den Armen lagen) stellte gleichsam vertretungsweise und anstandshalber eine letzte Stauung vor, nur damit dem Ansprüche der Wirklichkeit genug getan werde durch eine, wenn auch noch so geringe, Dauer dieser letzten Phase: durch einige Minuten wenigstens. Während dieser sagte er ihr übrigens, wer Mary sei und gewesen sei. Er sagte es gleichsam mit der Zungenspitze, die Situation kaum ritzend mit dem Wort, so wie sie beide hier alles auf dem Tischchen gleichsam nur mehr mit den äußersten Fingerspitzen taten: denn schon von einer Hand zur andern war die Spannung ungeheuer. Hier war nichts zu halten. Bei ihr schon gar nicht. Ihre Verwirrung konnte kaum mehr verborgen bleiben, sie ließ die Hände in den Schoß sinken, sie lächelte, die Brust hob sich, ihr Aug' erfeuchtete. Er sah's, obwohl schon die Dämmerung mit der immer schneller vergehenden Zeit wie Rauch einfiel. Sie gerieten an die Kante. Die Hilflosigkeit der Rokitzer wurde ganz offenkundig, und in diesem Augenblicke erhob sich Melzer und warf sich vor ihr auf die Knie: ohne daß sie vorher im leisesten einander berührt gehabt hätten, nicht einmal mit den Fingerspitzen. Sie stürzten eins ins andere ab, einander in die Arme. Thea, laut schluchzend, war völlig fessellos. »Du, du, du …« gurrte sie. Sie preßte ihn an sich, er bekam's zu spüren, was das für ein starkes Mädchen war, es fehlte ihm wirklich der Atem. Höheren Orts aber erfloß jetzt die letzte diesfällige und endgültig besiegelnde Entscheidung. Denn wenige Augenblicke nachdem sie einander mit den Armen umschlossen hatten und während des ersten Kusses, erschien, grad auf der Mitte des Kaminsimses stehend, der Gott: zunächst hätte man ihn für eine größere Porzellan figur halten können, die in der Dämmerung ein wenig leuchtete. Jedoch die Augen funkeln, glühen, jetzt strahlen sie. Er zieht den Pfeil, reckt die rosige, glänzende Hüfte. Der Bogen spannt sich. Das hornissenartige, gefährlich-ernste Singen des Pfeiles aber scheint den Liebenden jetzt wie ein Himmelston, von dem sie in ihrer Verdummung obendrein vermeinen, er käme aus ihnen selbst und höchst persönlich. Das Geschoss schlug Melzern von links schräg rückwärts durch den Thorax und drang unter der Rokitzer beträchtlicher linker Brust tief ein. Sie blieben dicht aneinander und waren gespießt wie die Schmetterlinge, dabei aber in ihren Wunden eine Süßigkeit empfindend, mit welcher verglichen der Ton der Syrinx oder der Geschmack des Honigs als reine Bitternis bezeichnet werden müssen. Über dem Kaminsimse war nichts mehr: nur durch wenige Augenblicke noch jenes weißliche Leuchten (fast wie der Schein eines mit dem Blasbalge noch einmal angefachten Glutrestes), welches die entschwindenden Himmlischen immer hinterlassen, ob sie nun auf dem Schlachtfelde erscheinen oder wie hier zu einer Amtshandlung in Liebes-Sachen. Aber jenes Leuchten scheint viel wirklicher und dichter als die Dinge rundum, die es dann zurückläßt.

    Von Stund an, möchte man sagen, wär' es nicht eigentlich von der Minute an gewesen, da Melzer vor Thea niedergekniet war, trat bei dem Major etwas auf, das wir nicht Eile nennen können – es würde dies einen bloßen Zustand bedeuten – sondern geradezu eine neue Eigenschaft: Geläufigkeit (gradus ad parnassum?!). In Minute 3 nach dem ersten Kuß fragte er, ob sie seine Frau werden wolle. Oh, oh! Bäh, Bäh! Melzer fragte mit knappem Atem, denn die Arme der Rokitzer wurden immer kräftiger, und sie ließ ihn nicht mehr aus ihnen, nein, nein! (›Diese großen Stücke schnüren immer, und zwar gewaltig.‹) In Minute 10 verlangte er bereits, sie möge heute noch mit ihren Eltern sprechen; überhaupt wolle er sie nach Hause begleiten und jenen Aufklärung darüber geben, was vorgefallen sei, warum sie hier bei ihm heroben gewesen und weshalb sie in einem anderen Kleid nach Hause käme als in jenem, darin sie ausgegangen. Thea faßte von alledem wenig auf, und so kam es zu keinem rechten Einspruch ihrerseits: und eine halbe Stunde später hatte der Major seinen Vorsatz bereits durchgeführt (der reinste Aktivist, fast ein Negrianer!) und saß mit den Eltern Theas vor dem Büffet im Jugendstil, während jene in ihrem Zimmer aus der Rak'schen Wursthaut schlüpfte. Man sollte nun meinen, daß dem alten Rokitzer alsbald ein, wenn auch dünner, so doch nicht mehr abreißender Faden der Besorgnis entrann. Aber dem war nicht so. Man

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