Die stumme Bruderschaft
ist das Herz der Finanzen des Ordens, von ihr aus sind wir überall präsent. Wir sind überall, und deswegen allen anderen immer einen Schritt voraus. Deswegen wussten wir auch die ganze Zeit, was das Dezernat für Kunstdelikte vorhatte«, sagte Pater Yves mit schwacher Stimme.
»Sogar im Vatikan.«
»Möge Gott mir verzeihen.«
Das war das Letzte, was Yves de Charny sagte. Ana schrie entsetzt auf, als sie begriff, dass er tot war. Sie schloss ihm die Lider und brach in Tränen aus. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie selbst starb? Vielleicht Tage. Aber das Schlimmste war nicht der Tod, sondern das Wissen, bei lebendigem Leib eingemauert zu sein. Sie hob das Telefon an die Lippen.
»Sofia? Sofia hilf mir!«
Das Telefon blieb stumm. Da war niemand am anderen Ende.
Sofia Galloni schrie verzweifelt auf.
»Ana, Ana, wir holen dich da raus!«
Seit ein paar Sekunden war die Verbindung unterbrochen. Bestimmt war der Akku leer. Sofia hatte über die Walkie-Talkies den Schusswechsel in den unterirdischen Gängen verfolgt und die Schreie von Marco und den Carabinieri, die fürchteten, verschüttet zu werden. Sie hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Sie war noch nicht an der Tür, da klingelte das Handy. Sie dachte, es sei Marco. Es lief ihr eiskalt über den Rücken, als sie Ana und Pater Yves hörte. Mit dem Telefon am Ohr war sie stehen geblieben. Die anderen kümmerten sich bereits darum, die Verschütteten zu retten.
Minerva fand Sofia weinend mit dem Handy in der Hand vor. Sie schüttelte sie, um sie aus ihrem hysterischen Anfall herauszuholen.
»Sofia, bitte! Was ist los? Jetzt beruhige dich doch!«
Mit Mühe erzählte Sofia Minerva, was sie gehört hatte. Minerva sah sie erstaunt an.
»Komm, lass uns zum Friedhof fahren, hier können wir nichts tun.«
Die beiden Frauen traten auf die Straße. Es war kein Auto mehr da, also nahmen sie ein Taxi. Sofia konnte nicht aufhören zu weinen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie Ana nicht hatte helfen können.
Das Taxi hielt an einer Ampel. Als es anfuhr, schrie der Fahrer plötzlich auf. Ein LKW kam frontal auf sie zu. Das Geräusch des Aufpralls zerriss die nächtliche Stille.
49
Addaio weinte leise. Er hatte sich in seinem Büro eingeschlossen und erlaubte nicht einmal Guner einzutreten. Er sa ß schon mehr als zehn Stunden so da, von widersprüchlichen Gefühlen übermannt.
Er hatte versagt, und viele Menschen waren wegen seines Starrsinns gestorben. In den Zeitungen stand nichts über die Ereignisse, nur dass bei einem Einsturz in den unterirdischen Gängen von Turin ein paar Arbeiter umgekommen waren, darunter auch Türken.
Mendibj, Turgut, Itzar und andere Brüder waren für immer unter Schutt begraben. Er hatte den vorwurfsvollen Blick der Mutter Mendibj s und Itzars ertragen müssen. Sie würde ihm nie verzeihen, genauso wenig wie die Mütter der anderen Jungen, die er aufgefordert hatte, ihre Zunge auf dem Altar des Unmöglichen zu opfern.
Gott war nicht auf ihrer Seite. Die Gemeinschaft musste sich damit abfinden, das Grabtuch nie zurückzubekommen, denn so war sein Wille. Er konnte nicht glauben, dass all diese Niederlagen nur von Gott auferlegte Prüfungen sein sollten, um sich ihrer Stärke zu vergewissern.
Er hatte sein Testament verfasst und konkrete Anweisung gegeben, wer sein Nachfolger werden sollte: ein guter Mann mit einem reinen Herzen, ohne jeden Ehrgeiz, der das Leben liebte, wie er selbst es nie getan hatte. Guner würde der neue Hirte werden. Er steckte den Brief in den Umschlag und versiegelte ihn. Er war an die sieben Hirten der Gemeinschaft gerichtet, sie sollten seinen letzten Willen erfüllen. Den konnte man ihm nicht verweigern: Jeder Hirte bestimmte seinen Nachfolger selbst, so war es über Jahrhunderte gewesen, und so würde es immer sein.
Er holte ein Tablettenröhrchen hervor und schluckte den gesamten Inhalt. Dann setzte er sich in den Ohrensessel. Ihn erwartete die Ewigkeit.
50
Es waren fast sieben Monate seit dem Unfall vergangen. Sie hinkte. Sie war viermal operiert worden, und ein Bein war jetzt kürzer als das andere. Ihr Gesicht hatte nicht mehr die strahlende helle Haut von früher. Es war voller Falten und Narben. Erst vor wenigen Tagen hatte sie das Krankenhaus verlassen. Die Wunden am Körper taten nicht mehr weh, aber der Schmerz in ihrer Brust war umso stärker.
Sofia saß im Büro des Innenministers. Zuvor war sie auf den Friedhof gegangen und hatte Blumen zu den Gräbern von Minerva und
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