Die Stunde der Hexen - Midnight Hour 4 - Roman
Nicky starrte. Meine Ankunft schien ihr Geplärr unterbrochen zu haben, und jetzt wirkte sie genauso verblüfft und fasziniert von dem Neuankömmling wie ihr Bruder. Im Gegensatz zu diesem war sie nicht doppelt so groß geworden - ich erkannte sie tatsächlich von unserem letzten Treffen her wieder. Doch sie erinnerte sich offensichtlich nicht an mich, dafür war ich nicht ausreichend Teil ihres Lebens.
Kinder. Verdammt noch mal. Die beiden waren die einzigen Kinder, die es je in meinem Leben geben würde.
Keine Tränen, nicht hier. Ich stellte mich hin und betrachtete meine Familie eingehend. Meine erste Familie. Wir sahen wie eine Familie aus - alle relativ sportlich, fit, wie eine Werbung für einen Country Club oder so was. Mom und Dad hatten sich in der Tennismannschaft am College kennengelernt, und sie spielten immer noch zweimal die Woche. Dads braune Haare ergrauten allmählich vornehm. Die Mädchen hatten alle blonde Haare, auch wenn Moms mittlerweile beinahe aschgrau waren.
Einen Augenblick lang sah Mom nicht wie Mom aus. Sie war ungeschminkt, das kinnlange Haar hing glatt und unfrisiert herunter, und in dem Krankenhaushemd sah sie massig und unelegant aus. Mom war eine äußerst adrette Frau. Diese Version ihrer selbst war unverkennbar krank. Sie wies keine offensichtlichen Symptome auf. Und sie lächelte völlig unbeschwert. Doch die Nervosität war da, in der Verspanntheit ihrer Kiefer und ihrer Hände.
Dad sah Ben zuerst, der leise ins Zimmer geschlüpft war und an der Wand neben der Tür lehnte. Der Blick meines Vaters lenkte die Aufmerksamkeit aller auf ihn.
Tja, so hatte ich das Ganze eigentlich nicht geplant. Da musste ich jetzt durch.
»Das ist Ben«, sagte ich. Ich trat auf ihn zu und zog ihn vor, lenkte ihn am Ellbogen. Während ich auf jeden Einzelnen deutete, stellte ich sie einander vor. »Ben, das sind Mom und Dad - Gail und Jim. Cheryl, verheiratet mit Mark dort drüben, und die beiden Knirpse sind Jeffy und Nicky.«
»Hallo Ben«, sagte Mom mit einem breiten Lächeln und unerträglicher Selbstgefälligkeit. »Es ist so schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«
Sehr höflich schüttelte Ben meinen Eltern die Hand. »Mrs. Norville, Mr. Norville.«
»Mein Gott, das ist ja wie auf der Highschool«, murmelte ich und fühlte mich auf einmal sechzehn Jahre alt. Sollte es mit der Zeit nicht einfacher werden, seinen Eltern den Partner vorzustellen?
»Bitte nennen Sie mich Gail«, säuselte meine Mom und sah überaus zufrieden aus.
Das Zimmer wirkte beinahe heiter mit seinen rosafarben gestrichenen Wänden und einer Bettdecke in glücklichem Gelb. Sie hatten versucht, dem Anstaltsambiente einen freundlichen Anstrich zu verpassen. Doch es roch trotzdem nach Krankenhaus. Und Mom war trotzdem krank.
»Was ist los? Was passiert jetzt?«, fragte ich.
Mom winkte ab. »Mir wird es gutgehen, so oder so. Die Biopsie wird vielleicht sogar negativ ausfallen, und ich werde mir keinerlei Sorgen machen müssen. Aber selbst wenn die Geschwulst bösartig sein sollte, dann bekomme ich eben ein bisschen Bestrahlung, und es wird alles verschwinden. Ich muss noch nicht einmal mit der Arbeit aufhören. Es wird alles gut.«
Sie war die Einzige im Zimmer, die lächelte. Ich sah meinen Dad an. Diesen Ausdruck hatte ich noch nie auf seinem Gesicht gesehen. Diesen Ausdruck hatte ich bisher auf niemands Gesicht gesehen. Er litt Qualen, aber nicht nur deswegen, weil er versuchte, nicht zu weinen - er weinte nie. Es war, als sähe er mit an, wie die Welt auseinanderfiel, und er glaubte, sie zusammenhalten zu müssen. Ich ging davon aus, dass er mit Moms Arzt gesprochen hatte, dass er über die Situation genauso im Bilde war wie Mom. Aus irgendeinem Grund teilte er die sonnige Prognose seiner Frau nicht. Es war doch gewiss zu früh, um niedergeschlagen zu sein. War es nicht zu früh, um mit dem Schlimmsten zu rechnen? Selbst wenn sie tatsächlich Brustkrebs haben sollte?
Im Moment wollte Mom, dass wir genauso fröhlich wie sie waren. Wollte uns glauben machen, dass alles gut
würde. Vielleicht hatte sie Recht. Eine kleine Operation, ein bisschen Bestrahlung. Krebs war nicht automatisch ein Todesurteil. Tausende Frauen überlebten. Mom wäre eine davon.
Bevor man sie in den Operationssaal schob, drückte sie meine Hand. »Hätte ich gewusst, dass ich bloß an Krebs erkranken musste, damit du nach Hause kommst, hätte ich es schon früher gemacht.«
Krankheit hin oder her, dafür hätte ich sie ohrfeigen
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