Die Stunde der Schwestern
auf den Tisch. »Du bist eingeladen.
Salut!
« An der Theke wechselte er noch ein paar Worte mit dem Barkeeper, dann verließ er das Bistro.
Fleur überlegte fieberhaft. Sie war aufgeregt und nervös. Was erwartete sie am nächsten Morgen, vor allem, was erwartete sich Georges von ihr? Sie war nach Paris gekommen, um Modeschöpferin zu werden, aber es war ihr bisher nicht gelungen. Doch sie musste Geld verdienen, zumal Maxime zu seinem neuen Freund Thierry gezogen war und sie unbedingt die ganze Dachwohnung übernehmen wollte. Als Mannequin konnte man viel Geld verdienen. Und so trank sie entschlossen ihren Tee aus und wünschte sich in Gedanken eine große Karriere auf den Titelbildern der Modemagazine. Ihre Mutter sollte stolz auf sie sein.
*
Am nächsten Tag regnete es stark. Kein Taxi war frei, und so hetzte Fleur bis zum Boulevard Saint-Germain und dort in die Metro. Völlig durchnässt kam sie an der Station Gare de l’Est an. Es war immer noch dunkel, und es regnete weiter, als Fleur die angegebene Straße entlanghastete. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass die Nummer 11 a das Hinterhaus der Nummer 11 war und sie durch eine Toreinfahrt gehen musste, die in einen verwahrlosten Innenhof führte. Sie sah sich zögernd um. Sie zweifelte daran, dass Georges Bonnets Atelier in einem so heruntergekommenen Anwesen lag. Erst als sie das Schild mit den Initialen G. B. entdeckte, ging sie auf die Holztür zu, an der die dunkelgrüne Farbe abblätterte. Während sie noch die Klingel suchte, wurde die Tür von innen geöffnet, und Georges zog sie in einen großen Raum.
»Endlich!«, herrschte er sie an. »Was glaubst du, wer du bist? Seit einer Stunde warten hier zehn Leute auf dich und …
Mon dieu,
wie siehst du denn aus?«
»Ich hatte keinen Schirm, und ich dachte, ich finde sofort ein Taxi und …« Unsicher und völlig durchnässt stand Fleur vor ihm.
»Ich meine dein Make-up«, antwortete er kopfschüttelnd. »Du siehst ja grauenvoll aus! Elise, übernimm sie,
vite, vite!
Dieser furchtbare Lidstrich, wie kann man sich nur so verunstalten!«
Fleur schwieg beschämt. Sie war um fünf Uhr aufgestanden, um sich die Haare zu waschen und zu schminken.
Elise, eine junge Frau, nahm Fleur am Arm und schubste sie durch den großen Raum. Überall standen Scheinwerfer, von der Decke herab baumelte eine weiße Leinwand, auf mehreren Ständern hingen Kleider, und darunter standen offene Schuhschachteln. Auf einem langen Tisch lagen Hüte, Modeschmuck und Handschuhe in einem wirren Durcheinander. Fleur hatte keine Zeit, sich weiter umzusehen, da Elise sie vor einem Schminktisch auf einen Stuhl drückte. Eine Lampe ging an und leuchtete ihr Gesicht aus. Ein Mann trat hinter sie, griff ihr grob in die Haare, warf im Spiegelbild einen prüfenden Blick auf sie und setzte dann die Schere an. Irgendjemand legte ihr einen hellblauen Kittel um, und während der Mann an ihren Haaren herumschnitt, beugte sich Elise über sie und wischte ihr mit einem feuchten Tuch das Make-up aus dem Gesicht und den dunklen Balken von den Augenlidern. Als sie endlich einen kurzen Blick in den Spiegel riskieren konnte, stieß sie einen Schrei aus. Der Stylist schnitt ihr ungerührt die langen Locken ab, auf die sie seit ihrer Kindheit so stolz gewesen war. Doch da kam Georges, legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und versicherte, aus ihr einen Star zu machen. Da dachte Fleur an die unbezahlte Miete und die Kleider, die sie kaufen wollte, und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen.
Nach zwei Stunden wurde eine Pause eingelegt, und Fleur durfte sich im Spiegel ansehen. Sie erkannte sich nicht wieder. Ihre Haare waren ganz kurz geschnitten, die Augenbrauen stark betont. Sie staunte über den schönen Schwung ihrer Brauen. Dazu hatte Elise auf ihr Gesicht zarten Puder aufgelegt, der ihren blassen Teint noch hervorhob, und ihre vollen Lippen mit einem tiefroten Lippenstift betont.
»Das ist die neue Fleur, unverwechselbar, unverwechselbar schön.« Georges stand hinter ihr und sah sie prüfend im Spiegel an, und die Leute im Studio klatschten Beifall, der nicht ihr, sondern Georges galt.
Nach der Pause musste Fleur Kleider anprobieren. Ihre Taille wurde durch breite Gürtel betont, so fest angezogen, dass sie kaum atmen konnte, und dann fing Georges an zu fotografieren.
Aus irgendeiner Ecke rauschte Opernmusik auf. »Wagner«, flüsterte ihr Elise zu. »Georges kann nur bei Wagner fotografieren. Andere Dinge
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