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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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Dann sah sie sich in dem Wohnraum um. Zwei große weiße Sofas, davor ein Glastisch, weiße Orchideen in ebenfalls weißen Keramiktöpfen. Ein Kamin, über dem ein großer venezianischer Spiegel hing. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, es hatte einen direkten Durchgang zu einem luxuriös ausgestatteten Bad. Gegenüber befand sich eine schmale Tür: offenbar das Ankleidezimmer. Bérénice’ Herz klopfte stark, und ihre Hände zitterten, als sie eintrat und das Licht einschaltete. Sie sah sich um. Eine breite Schrankwand, ein Spiegel, ein Biedermeierstuhl, auf dem ein hoher Stapel von alten Ausgaben der
Vogue
lag. Das Cover des obersten Heftes zierte ein Foto von Fleur. Sie trug eine weiße Bluse mit schwarzen Tupfen und lächelte in die Kamera. Das Magazin war aus dem Jahr 1958 . Bérénice sah die Zeitschriften nicht weiter durch, sondern öffnete den Schrank. Unter weißen Nesselhüllen hingen die Kreationen der großen Modeschöpfer der Vergangenheit auf breiten Samtbügeln. Bérénice zog ein Kleid heraus, das sie von einem der Fotos der Georges-Bonnet-Ausstellung kannte.
    Fleur in einem Traum aus rotem Chiffon von Balenciaga im La Coupole.
Es war eines der schönsten Fotos in der Petite Galerie des Arts gewesen.
    Einer plötzlichen Regung folgend, zog Bérénice die Nesselhülle wieder über das Kleid, um es mitzunehmen. Hatte Maxime nicht gesagt, sie habe ein Recht auf Fleurs Sachen?
    Flüchtig sah sie die Couture-Abendroben durch. Maxime hatte recht, die Kleider waren am besten in einem Museum aufgehoben. Bérénice öffnete die zweite Tür des Schranks, hinter der Schuhe in allen Farben standen. Dann ging sie in die Knie, denn im untersten Fach standen drei Kartons, angefüllt mit Fotos. Flüchtig wühlte Bérénice sie durch. Wenn sie die Sachen zu Hause hatte, konnte sie sich die Bilder genauer ansehen. In einem der Kartons lagen auch ein paar Bücher. Bérénice sah sie durch. Es waren mehrere deutsch-französische Schulbücher und ein paar Romane.
    In der hintersten Ecke fand Bérénice einen länglichen rosa Karton, den sie herauszog und öffnete. Staunend holte sie vorsichtig eine Puppe heraus. Auf dem Köpfchen trug sie einen kleinen Strohhut mit einem seidenen rosa Band und dazu ein passendes Kleidchen, besetzt mit kostbarer Spitze. Die winzigen Schuhe waren aus Lackleder. Hatte diese teure Puppe Fleur gehört? Doch sie wirkte neu und unbenutzt. Vorsichtig legte Bérénice die Puppe zurück in den Karton und entdeckte erst jetzt auf dem Seidenpapier eine schmale Karte:
Meine liebe kleine Bérénice,
viele Küsse von Deiner Tante Fleur zu Deinem ersten Geburtstag.
    Warum hatte Fleur diese Puppe für sie gekauft, aber nie abgeschickt? Als Bérénice das Seidenpapier vorsichtig über die Puppe zog, steckte noch ein Brief im Karton. Er war von Denise.
     
    Fleur,
    habe ich Dir nicht deutlich genug gesagt, Du sollst uns und unser Kind in Ruhe lassen? Anbei schicke ich Dir diese geschmacklose Puppe zurück und: Rufe nie wieder an! Etienne sieht es nicht gern, wenn Du uns dauernd belästigst. Also, lass uns endlich in Ruhe!
    Denise
     
    Das also hatte ihre Mutter geschrieben. Warum? War sie eifersüchtig auf ihre schöne Schwester, befürchtete sie, dass Fleur ihr die Liebe der Tochter stehlen würde? Noch einmal nahm Bérénice vorsichtig die kostbare Puppe heraus. Zart strich sie über das seidene Kleid, legte sie wieder behutsam in den Karton und schob ihn in den Schrank zurück. Doch dann überlegte sie: Diese Puppe war ein Geschenk an sie gewesen, also gehörte sie ihr. Kurz entschlossen nahm sie den rosa Karton wieder heraus, dabei glitt ein Brief aus dem Fach und fiel zu Boden. Jemand schien ihn achtlos zwischen Karton und Schrankwand gesteckt zu haben.
    Neugierig hob Bérénice ihn auf, und als sie den Namen des Empfängers las, fing ihr Herz an zu rasen: Patrice Chaubert. Die Adresse war eine Klinik in Passy. Fleur hatte das Kuvert frankiert, aber nicht abgeschickt, nicht einmal zugeklebt.
    Plötzlich fühlte Bérénice sich unbehaglich. Sie schnüffelte Fleur nach, durfte sie das? Wenn ihre Tante plötzlich nach Paris zurückkehrte? Doch dann steckte sie den Brief zur Puppe in den Karton. Maxime wollte, dass sie Fleurs Sachen durchsah und bald abholen ließ.
    Bérénice ging mit dem Karton und ihrer Tasche in den Wohnraum zurück und schlüpfte in ihren Mantel. Sie fröstelte und horchte in der stillen Wohnung auf die gedämpften Geräusche, die von der Rue Saint-Honoré heraufdrangen: das

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