Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
sie in ihre Rocktasche. Bis zum Bach würde der Feuerschein reichen, sie wusste ja, woher der Schmerz kam und wo sie die Paste auftragen musste. Am Wasser angekommen, zwang sie sich trotz der eisigen Kälte, das Hemd ganz zu öffnen und von den Schultern zu ziehen. Der Wind fegte vorbei und drückte ihr seinen kalten Kuss auf die Haut, versprach, noch mehr Schmerz zu lindern, wenn sie ihm nur zeigte, wo. Spielerisch hob er ihren Rock, fingerte an den Beinen und suchte im gebauschten Oberteil. Sie drückte zitternd die Kleidung an sich. Ein dummer Einfall, sich hier allein und mitten in der Nacht halb auszuziehen. Aber nun hatte sie einmal damit angefangen. Und Beth hatte ihr nicht gesagt, wie lange sie noch würden reiten müssen. Mit dem Finger tastete sie über die vom Eiter nässende Schulter. Der Gedanke, sich den schweren Beutel wieder auf den Rücken zu hängen, wurde unerträglich.
Wie wohltuend wäre jetzt Katalins sanfte Hand, mit welcher Hingabe würde sie die zarte Haut pflegen, wie sie das all die Jahre getan hatte, stets im Bewusstsein, eine Dame von hoher Geburt vor sich zu haben … In diesen turbulenten Tagen war nicht einmal Zeit gewesen, ihrer Seele zu gedenken.
»Ach, Katalin«, flüsterte sie traurig. Selbst der Klang des Namens schuf schon ein Gefühl von Geborgenheit, und so wisperte sie ihn wie eine Gebetszeile vor sich hin: »Katalin. Katalin. Liebe Katalin. Liebste Katalin …«, während sie allen Mut zusammennahm und erst Wasser über die schmerzenden Stellen laufen ließ und dann von dem übelriechenden Fett auf die Wunden schmierte. Der Wind rümpfte die Nase. Er tanzte um sie herum, zupfte hier, zog da am Kleid, er hatte doch versprochen zu lindern, sie musste ihm einfach nur mehr zeigen … Sie wurde immer unruhiger.
Es war, als hätte der Wind Augen. Ja, vielleicht hatte er Augen. So wie der düstere Wald gegenüber. Und nicht nur dieser. Jedes Mal, wenn Beth sie auf einen dieser endlosen Waldwege geführt hatte, von denen aus man den Himmel nicht erkennen konnte und deren Böden niemals das Tageslicht sahen, hatte sie sich beobachtet gefühlt. Hinter den Büschen steckten vielleicht Feen, Waldwesen oder wilde Männer, die ihre behaarten Körper von keiner Kleidung wärmen ließen und doch niemals froren … Furchtsam schaute sie sich um. Wirklich gesehen hatte noch niemand einen wilden Mann. Aber davon erzählen konnten sie alle.
Doch es brauchte keinen wilden Mann, um die eisige Luft aufzuladen. Das andere Bachufer lebte. Es bewegte sich … und begaffte sie neugierig. Der Wald war mehr als nur neugierig. Er war aufdringlich. Er kam näher. Davon hatte ihr nie jemand erzählt – und niemals in ihrem Leben war sie nachts alleine draußen gewesen. Sie kannte keine flüsternde Dunkelheit und keine glotzende Finsternis. Es war besser, zu Beth zurückzukehren, so schnell wie möglich.
Christina nahm allen Mut zusammen und schmierte sich eine noch dickere Schicht Fett aus dem Tiegel auf die Schultern. Dann zog sie rasch das Hemd hoch und knotete die Bänder zu einer festen Schleife, damit auch der Wind nicht hineinfassen konnte. Schließlich hob sie noch die Röcke, um ihre Beine und das schmerzende Gesäß zu salben. Es fühlte sich gar nicht gut an, mit hochgehobenen Kleidern dazustehen. Das hier war schlimmer als im Badehaus, wo die alten Nonnen immer gegafft hatten, wenn sie in den Zuber stieg. Die Nonnen hatten ja vor ihr gestanden. Ihr klopfte das Herz. Es knackte im Gebüsch. Da atmete doch etwas … da war doch jemand. Sie ließ die Röcke fallen, kauerte sich in die Hocke und schaute sich um. Ein wildes Tier, bereit zum Sprung? Beth hatte ihr von Katzen erzählt, die von Bäumen heruntersprangen und Menschen anfielen. Da: In der Ferne heulten Wölfe. Einer hub an, drei weitere fielen ein, begleiteten sein schauerliches Lied, erhoben sich über seine Stimme, übertönten sie, dann kroch die erste Stimme unter den Chor der anderen und begann von neuem … sie konnten überall sein. Hinter den Bäumen. Hinter dem Bach. Hinter dem Horizont.
Welches Glück, Beth bei sich zu haben … die große Frau konnte mit ihrem Mut und ihrer Zuversicht alle Gefahren vertreiben. Christinas Herz trommelte wie wild, während sie sich umsah. Das Geheul ließ nicht nach. Bloß zurück zum Feuer, dorthin würden ihr all diese Geister nicht folgen! Sie lud sich das Stundenbuch auf den Rücken und biss die Zähne zusammen, als sich die Riemen wie Klauen in die Schultern gruben. Tonnenschwer hing
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