Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
das Buch an ihr herab – bisher war ihr das nicht so aufgefallen. Sie schnürte sich den unteren Riemen um die Taille, streifte Kleid und Mantel über und bückte sich, um den Salbentiegel aufzuheben. Das Buch hockte ihr im Rücken wie ein klammernder Alp. Sie griff sich an den Hals, doch da waren keine Arme. Trotzdem bekam sie kaum noch Luft. Der Hunger narrte sie ja schon. Hoffentlich würden sie am Morgen etwas zu essen finden. Und einen warmen, sicheren Platz zum Ausruhen – und hoffentlich bald in Jarrow ankommen.
Die wenigen Schritte zum Feuer hinüber kamen ihr vor wie eine lange Reise.
»Beth«, flüsterte sie. »Beth, wach auf.«
Gleichmäßiges Schnarchen drang aus dem riesigen Mantel, in den Beth sich so gewickelt hatte, dass sie eher aussah wie eine fette Made. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, nur die Geräusche wiesen die Richtung. Christina hatte sich bereit erklärt, die erste Wache zu übernehmen, aber nun beneidete sie ihre Begleiterin um den gesegneten Schlaf, den nicht einmal die wilden Tiere stören konnten.
»Ach, Beth …«
Der Felsvorsprung bot nicht viel Schutz. Das Feuer spendete nur wenig Wärme, jeder Windstoß blies ihr Rauch ins Gesicht, und er schien sich einen Spaß daraus zu machen, sie zu finden, wohin sie unter dem Felsen auch rutschte. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, wessen Einfall es gewesen war, ausgerechnet hier Rast zu machen – und gleich die ganze Nacht. Warum man nicht ein Gehöft aufgesucht hatte. Sie wusste noch, dass Beth irgendwann ratlos angehalten hatte, vom Pferd gestiegen war und zugegeben hatte, den Weg in der Dämmerung verloren zu haben. Aber das sei nicht schlimm, bei Tagesanbruch würde man sich schon wieder zurechtfinden. Das Brot hatten sie am Abend aufgegessen, danach hatte es nur noch eine im Feuer geröstete Zwiebel gegeben, gegen die ihr Gedärm nun aufbegehrte.
Stille trug die Nacht auf ihren Händen. Die Wölfe waren verstummt. Christinas Mund war wie ausgedörrt, ihr Herz wollte zum Hals hinaus, und sie kratzte nervös an ihrem Unterarm herum. »Beth, wach doch auf. Ich glaube, wir sind nicht alleine …«
Das Gefühl wurde unerträglich. Irgendwer beobachtete sie. Saß in den düsteren Büschen, hinter den anderen Felsen, ganz nah – fast konnte sie es ja riechen. Da war jemand. Merkte man den Pferden nichts an? Sie standen ruhig angebunden – und waren wach. Die schwarzen Augen blitzten im Feuerschein. Die Stute war hellwach und hatte ihre Ohren gespitzt. Leise warnend schnaubte sie.
»Beth …« Vorsichtig rutschte Christina um das rauchende Feuer herum und rüttelte an ihrer Begleiterin. Dann roch sie es. Die Kanne, die Beth sich an der Herberge erbettelt hatte, lag geleert und mit offenem Deckel neben dem Feuer. Ein dünnes Rinnsal sickerte durch den platt getrampelten Schnee. Ein absonderliches Biergebräu, dessen Geruch Christina abgeschreckt hatte. Die Wirtin in der Herberge hatte so ausgesehen, als ob sie sich mit Rauschkräutern auskannte. Christina hatte nichts von dem Zeug getrunken. Beths Rausch aber schillerte in den Farben des Bierfasses, und alles, was sie hervorbrachte, war ein undeutliches Grunzen.
Dann riss die Stute den Kopf hoch. Ihre Mähne flog im Schein des Feuers, ihre Augen blitzten. Im Gebüsch raschelte es, jemand lachte mit tiefer Stimme, Schritte waren zu hören, Knacken, ein blinkendes Schwert köpfte übermütig hohes Gras. »Schön, dass Ihr uns mit einem warmen Feuerchen begrüßt, hlæfdige , ich hatte schon befürchtet, Ihr wärt auf Eurer Reise auch aller Manieren verlustig gegangen«, erklang Máelsnechtais Stimme aus den Schatten. Nur die breite Brosche, die seinen Mantel zusammenhielt, schimmerte im Licht. Christina rüttelte wie wild an Beths Arm, doch die Frau rührte sich nicht, offenbar war sie sturzbetrunken.
Dann stand er vor ihr, breit und unüberwindlich wie ein Berg, und fasste sie am Arm. Sein Griff war eisenhart. Mit der anderen Hand riss er ihr die Kleider von der Schulter.
»Am besten, ich mache Euch gleich hier an Ort und Stelle zu meinem Weib und beende diese lächerliche Flucht. Ich bin es wirklich müde, Euch durch halb England zu folgen, hlæfdige Christina.«
Sie versuchte sich zu befreien, wenigstens an ihm vorbeizuschauen, denn aus dem Dickicht tauchte ein weiterer Mann auf – Ruaidrí. Warum half er ihr nicht?
» Hlæfweard , ich fliehe nicht, ich habe eine Aufgabe zu erfüllen – Ihr hindert mich daran, das zu tun!«, zischte sie.
»Eine Aufgabe«, höhnte er, »so,
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