Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
weiterwandern. Der Mann, den Nial »Lazarus« genannt hatte, stank aus allen Löchern seiner ärmlichen Kleidung nach Verwesung. Und er war nicht allein gekommen.
Nach und nach traten sie unter den Bäumen hervor, düstere, mit langen Stöcken bewaffnete Schatten, gekleidet wie Mönche und doch eine Armee von Sündern und deshalb weit entfernt von Gottes Nähe … Manche humpelten, einige brauchten einen Stock, um laufen zu können, doch alle trugen sie eine grimmig-schweigende Aura wie Kriegsschilde vor sich her. Selbst das kleine Feuer schien sich zurückzuziehen, um die Ankömmlinge nicht zu reizen, als hätte ihm jemand gesagt, dass diese Schatten das Licht scheuten.
»Das sind Aussätzige«, flüsterte Nial. Er ließ sie los und setzte sich gerade hin, um irgendwie reagieren zu können. Was eine törichte Idee war, denn alle Kapuzenmänner kamen bewaffnet und würden vielleicht nicht zögern, sie auch zu benutzen. Und der verfluchte Wundschmerz ließ ihn sowieso nicht weit kommen. »Gütige Jungfrau. So etwas hab ich noch nie gesehen.« Mühsam atmete er aus.
»Was, Nial?«, wisperte Christina. Panik lag in ihrer Stimme, und er spürte, wie sie zitterte, als ein weiterer Ankömmling seine Kapuze fallen ließ und ein grausig geschwollenes Gesicht entblößte. »Was … was tun wir … was?« Sie tastete nach seiner Hand. Er ergriff sie, das gab ihm selber Halt.
»Nichts«, flüsterte er zurück. »Schweig, Mädchen. Schweig einfach.«
»Hmm, wer hat uns denn hier ein zweibeiniges Almosen in den Wald gelegt?« Eine Stange stocherte neugierig in den Flammen, dann näherten sich Schritte. Nial versuchte ruhig zu bleiben. Sie würden ihnen nichts tun, das würden sie nicht wagen.
»Wir wären aber auch mit euren Pferden als Wegezoll einverstanden«, dröhnte der, der zuerst bei ihnen gesessen und sich inzwischen erhoben hatte, um den düsteren Kreis der anderen zu vergrößern. »Ihr könnt es euch aussuchen.«
»Als Erstes würden wir natürlich das Mädchen nehmen«, grinste der mit der Stange und warf die Waffe zu Boden. »Weißt du was, wir nehmen sie gleich mit. Wenn du erlaubst …« Mit erstaunlich festem Griff packte er Christina und zog sie hinter Nial hervor. Als der dem Mann an die Kehle ging, traf ihn ein gezielter Schlag mit der Faust, und er fiel hintenüber.
Christina riss sich von der Hand des Aussätzigen los. Darüber stolperte sie rückwärts und fast in das Feuer hinein; ein beherzter Satz zur Seite bewahrte sie vor den Flammen. Vielleicht war das der stärkende Schluck, den sie gebraucht hatte. Ihre Brust schwoll vor Zorn, der die Angst wohltuend überspielte. Die Hitze so dicht neben ihr half, den Zorn zu schüren. Sie war Máelsnechtai und den Wölfen entgegengetreten, sie konnte auch diesen Elenden die Stirn bieten!
»Seid ihr närrisch?«, schrie sie den Kapuzenmann an. »Wie könnt ihr ihn niederschlagen?« Der Mann stutzte. Sie hob beide Hände, atmete durch …
»He, er ist ja nicht tot.« Rau klang die Stimme und trotzdem beschwichtigend und freundlich. Der Besonnene unter den Aussätzigen kam näher und blieb respektvoll vor ihr stehen. »Vergib die unüberlegte Handlung meines Freundes, Frau. Wenn du dich nicht scheust, das Haus eines Aussätzigen zu betreten, bist du eingeladen, uns zu folgen.« Er machte eine entsprechende Handbewegung. »Es ist nicht weit, und du sollst ein weiches Nachtlager bei uns bekommen.« Sein Blick glitt bewundernd über ihre schmale Gestalt und blieb an ihrem blonden Haar hängen, das sich durch den kleinen Kampf gelöst hatte und schwer von ihrem Kopf herabhing. Kichernd machte das Feuer sich zum Komplizen und warf Lichtreflexe in die helle Pracht. Lazarus konnte nicht anders, er musste die Hand danach ausstrecken. Behände wich sie ihm aus. Ihr Herz klopfte wild – wenn sie ohnehin verloren waren, dann würde sie Nial nicht kampflos aufgeben.
»Ich geh nicht ohne ihn«, sagte sie fest. »Nirgendwohin. Ihr müsst ihn tragen.« Da lachten sie alle laut und heiser. Ein Dritter kam aus der Gruppe langsam auf sie zu.
»Uns trägt auch keiner, kleines Mädchen«, sagte er mit rauer Stimme. »Wenn er aufwacht, wird er uns schon folgen. Oder … dir.« Er trat näher und versuchte sogar ihr Gesicht zu berühren. Erschrocken fuhr sie zurück, seine Hand roch nach alten Wunden. Ein Baum bremste ihren Weg ab. Der Kapuzenmann bewegte sich. Nun standen sie zu zweit bei ihr. Das scheinheilige Feuer beleuchtete die Fratzen von der Seite und spielte so
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