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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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breiten wollte. Der Schotte verfolgte jede ihrer Bewegungen, ohne einen Schritt auf sie zuzugehen. Sie spürte, wie er jeden Stein mit dem Blick aufhob, in ihre Hand fallen ließ, herübertrug, doch es lag keine Unterstützung in seinem Blick. Nur Kälte …
    » Hlæfweard .« Sie richtete sich auf. »Ihr könntet die Pferde suchen.« Es musste doch möglich sein, ihn loszuwerden.
    » Hlæfdige .« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Grimasse, und ihr klopfte das Herz bis zum Hals – nun war niemand mehr da, der sie vor ihm beschützen konnte. Ihr einziger Schutz war sie selber. Bei dieser Erkenntnis fiel die Angst wie ein altes Kleid von ihr ab, zerbröselte vor ihr am Boden, und der aufkommende Wind trug den Staub davon. Das neue Kleid umgab sie mit Zuversicht und Mut. Sie schüttelte ihr offenes Haar. Der Wind fuhr hinein und lachte. Du machst das schon , raunte er, und mit jedem Schritt machst du es besser. Sie atmete tief ein. Der Mann vor ihr war immer noch bedrohlich, doch er konnte ihr nicht mehr schaden. Und er kam auch nicht näher.
    Sie blieb stur. Schleppte weiter Steine an das Grab und begann, den Toten damit zu bedecken, wie es die Krieger auf dem Schlachtfeld taten, wenn sie keine Löcher schaufeln und nicht alle Toten fortbringen konnten. Das jedenfalls hatten die Nonnen erzählt. Es war schwere Arbeit, und sie sprach in Gedanken die Totengebete für Ruaidrí – sie tat es nicht laut, weil sie Máelsnechtai nicht provozieren wollte. Sein Blick hatte sich verschärft, der Mund war im dichten Bart nicht mehr zu sehen.
    Dann bewegte er sich plötzlich. Tat einen Schritt auf sie zu und nahm ihr den schweren Stein aus den Händen.
    »Ihr betet. Ich mache das Grab«, sagte er. Dann sagte er nichts mehr, schaffte nur noch Steine herbei und schichtete sie zu einem Hügel auf, wie es sich für einen tapferen Krieger geziemte. Ob er dieses Werk für Ruaidrí verrichtete oder um sie zu beeindrucken, das konnte sie nicht sagen. Aber es war auch gleichgültig, denn ihre zarten Hände bluteten bereits vom Schleppen der rauen Granitbrocken, und Beten konnte sie eindeutig besser als er.
    Sicher war das Begräbnis nach Ruaidrís Geschmack – eine feine Dame, die bei Gott um Gnade für ihn ersuchte, und ein mächtiger Mann, der ihn wie einen Krieger bestattete. Er erwies ihm sogar die Ehre, denn als die Steine in schöner Regelmäßigkeit aufgetürmt waren und mit der oberen Kante nach Osten wiesen, stellte Máelsnechtai sich neben das Grab und begann zu singen. Seine tiefe Stimme klang rau und ließ jedes Gefühl vermissen, doch der Rhythmus, den er dazu auf seiner Ledertasche schlug, hatte etwas Forderndes, Mitreißendes und ließ sie aufhorchen.
    Sie verstand die Worte nicht, doch ahnte sie, dass er von einem tapferen Krieger sang, der im Kampf für seine Gefährten den Tod gefunden hatte und dessen Seele von Gott oder wem auch immer in Empfang genommen werden sollte. Wild und heidnisch klang das Lied, groß kamen die Laute aus seinem Mund, und weit trug die Luft den Rhythmus. Und Ruaidrí wäre vermutlich stolz gewesen, dass dieses Lied an seinem Grab gesungen wurde.
    Als er endete, war es lange still. Unbewegt hielt Máelsnechtai sein Gesicht dem Wind entgegen. Sein tiefschwarzes Haar umspielte die breiten Schultern, und vielleicht nahm der Wind seine Gedanken zusammen mit dem Geist des Toten mit sich in die Heimat hoch im Norden.
    »Seid Ihr nun zufrieden, hlæfdige ? Können wir endlich weiterreiten?« Seine Stimme troff vor Ironie und verriet, dass er trotz der andächtigen Szene vorhin tatsächlich nur sie im Blick gehabt hatte und wohl ahnte, dass ihn Gewalt nicht weiterbringen würde. Sie fand seine Berechnung abstoßend. Allerdings würde sie die Weiterreise erleichtern, weil sie ihr die Sorge um ihr Wohlergehen nahm. Máelsnechtai würde sie wie zugesagt unversehrt und so schnell wie möglich nach Jarrow bringen. Den Gedanken an das, was danach geschehen würde, schob sie weit weg. Er fragte auch nicht weiter, sondern ließ sie einfach stehen, um die Pferde zu suchen.
    Eine ganze Weile stand sie alleine am Grab des jungen Schotten. Trotz der Toten wirkte das Ufer des Tyne nun friedlich, und der Nebel kehrte zurück. Wie ein dicker Lindwurm kam er den Fluss heraufgezogen, füllte mit seinem Leib jedes Loch und jede Böschung aus und fraß stumm und gefräßig Bäume, Sträucher, Schilf und Gehölz, während seine Nase schon hinter die nächste Flussbiegung spähte.
    Christina fürchtete sich

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