Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
tot, verwest, verbrannt, von den Aasfressern vertilgt, ihre Knochen liegen stumm unter dem Grün der Wildnis, die sich diesen Ort nun gnadenlos zurückholt. Geh – bevor auch du den Rückweg nicht mehr findest. Ein undurchdringlich grüner Dornenring wird sich um Jarrow schließen …
Entschlossen trieb sie ihr Pferd voran. Das Portal der Kathedrale war längst aus den Angeln gefallen. Verrottete Reste lagen rechts und links zwischen wuchernden Kastanien, Heerscharen von Pilzen hatten sich auf dem nassen Holz ausgebreitet, sodass es auch niemandem mehr als Feuerholz hätte dienen können. Die Stute marschierte mutig über die splitternden Planken und hinein in das Gemäuer der Kathedrale. Christina wagte nicht abzusteigen. Der ehemals heilige Ort war ohnehin kaum als solcher zu erkennen.
»Wer treibt sich hier rum?«, krächzte es da zu ihrer größten Überraschung aus den Schatten. »Wer treibt sich in meinem Haus herum, ohne zu fragen? Wer verschaffte sich Einlass, ohne zu klopfen? Wer überschritt die Schwelle?« Er hielt inne, doch da war nur Wind in den Blättern. Sie raschelten ihm wohl Kunde vom Besucher. Und jetzt schwiegen sie.
»Ich komme demütig.« Christina versuchte die Schatten zwischen den Mauerresten zu inspizieren, doch das Abendlicht war bereits zu schwach, und so stieg sie nun doch vom Pferd. Den Sprecher hatte sie nirgendwo entdecken können, die Stimme kam von rechts, wo sich neben einer Fensterhöhle eine Art Verschlag zu befinden schien. Oder sah das nur so aus? Sie duckte sich neben ihrem Pferd und wartete darauf, dass die Stute ihr eine nahende Gefahr signalisierte. Doch die blieb vollkommen ruhig.
»Wer treibt sich hier herum?« Schlurfende Schritte näherten sich. Der Tag blieb ohne Licht zurück, aber der Sprecher war auch nicht auf Licht angewiesen. Die letzten Strahlen der Abendsonne offenbarten, dass man ihm einst seine Augen genommen und ihn in ewiger Dunkelheit zurückgelassen hatte – alleine in dieser Ruine.
Zwei von feiner, heller Haut überwachsene leere Augenhöhlen schimmerten ihr entgegen. Der Mann hatte es nicht nötig, seinen Makel mit einer Binde zu verdecken, wie es Geblendete häufig taten, damit ihr Anblick keinen öffentlichen Ekel erregte. Niemand wusste von seiner Existenz, niemand würde ihn hier stören – niemand sich an ihm stören. Und Ekel erregte das Gesicht nicht. Es war gewaschen, und den Kopf bedeckte eine saubere Leinenkappe. Es wirkte viel freundlicher als das der Aussätzigen, obwohl es von vielen Falten und Furchen des Lebens durchzogen war und der Hunger seinen markanten Pinselstrich hinterlassen hatte. Bei alldem wirkte das Gesicht nicht anstößig – es war sanft und voller Anteilnahme.
Eine Milchziege strich um seine Beine, ihr volles Euter und das Zicklein, das ihr folgte, schimmerten unschuldig schneeweiß, ein hoffnungsvoll heller Fleck in der beginnenden Dunkelheit. Christina indes konnte kaum den Blick von dem Antlitz vor ihr losreißen.
»Ich komme in Frieden und mit einer Bitte – ehrwürdiger …« Sie wusste nicht, wie sie den verstümmelten Alten anreden sollte. War er Priester? Mönch? Oder nur ein Einsiedler? Seine Leinenkappe konnte jeden Kopf zieren. Dann entdeckte sie das Holzkreuz auf der eingefallenen Brust. »Ich komme mit einer Bitte an Euch, ehrwürdiger Vater.«
Ohne Umstände schlurfte er näher, streckte die Hände nach ihr aus. Da preschte von hinten ein Reiter heran. »Lass deine Finger von der Dame, du stinkender Narr!«, und ein Fußtritt beförderte den Alten rückwärts in eine Pfütze. Mit einem einzigen Laut fiel er nieder, danach hörte man nichts mehr von ihm. Die Ziegen flüchteten meckernd. Máelsnechtai machte sich nicht einmal die Mühe, abzusteigen und nachzuschauen.
»Hier gibt es nichts für Euch, hlæfdige . Steigt auf, wir reiten los«, sagte er rau.
Wutschnaubend drehte sie sich um. Hatte sie jemals Angst vor ihm gehabt? Er war nichts als ein ungehobelter Barbar, er würde ihr nichts anhaben können, da war sie sich nun sicher. Der Zorn legte sich wie eine Wolke über sie, und vielleicht wich er tatsächlich davor zurück.
»Was gibt Euch das Recht, diesen alten Mann so zu behandeln?«, fuhr sie ihn an. »Er hat Euch nichts getan! Er lebt in dieser Ruine …«
»Der alte Mann kennt mich«, unterbrach Máelsnechtai sie grob. »Kümmert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten – die des Mannes sind ganz sicher nicht die Euren.«
»Ihr irrt.« Sie drehte sich zu ihm um. »Ihr irrt gewaltig,
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