Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
hlæfdige . Ihr könnt mir gerne glauben – oder nachfragen, die Mauern werden sich noch an mich erinnern.« Er lachte trocken. »Sonst ist vermutlich niemand mehr da. Es – nun, es würde mich wundern, wenn noch jemand da wäre.«
Die moosbewachsenen Ruinen schimmerten in der schüchternen Winterabendsonne und erzählten von einsamen Nächten, in denen der Wind die einzige Musik spielte, das Konzert menschlicher Stimmen hatte schon lange kein heiliges Echo mehr zwischen den Mauern verursacht. Zwei Raben kreisten über dem Gemäuer. Zwischen herauswuchernden Haselnussbüschen verschwand der dunkle Schatten eines dahinschleichenden Jägers. Ein Wolf? Der strenge Geruch von wilden Tieren stach ihr in die Nase – ihnen mochte die zerfallene Ruine vielleicht noch Schutz in brombeerbewachsenen Schlupfwinkeln und hinter Kaskaden von Efeu bieten. Menschen konnten hier keine Heimat mehr finden. Und Gott hatte den ehemals geweihten Ort sicher längst verlassen.
Die Stille, welche die Ruine von Jarrow umgab, war noch tiefer und noch näher am Herzen.
Das Stundenbuch auf ihrem Rücken begann sich bemerkbar zu machen. Das tat es auf eine widersetzliche, trotzige Art, als versuchte es zu verhindern, dass sie das Klostergelände betrat. Es machte sich schwer und rollte sich so zusammen, wie wenn ein Dutzend Fäuste gegen ihren Rücken stießen. Es rutschte hin und her und grub die Tragriemen noch tiefer in ihre wunden Schultern … sie griff nach den Riemen und dachte an Margaret, um derentwillen sie hier war. Friede kam über sie. Vielleicht dachte die Schwester gerade an sie, mit all der zärtlichen Hingabe, zu der Margaret fähig war. Alles wird gut, hörte sie, alles wird gut, Liebes, hab keine Angst. Und sie sah, wie die Schwester Malcolms Hand losließ, und spürte, wie sie ihr liebevoll über das Haar strich …
Die Stille von Jarrow drang in ihren Geist und lud sie ein, näher zu kommen.
Genau deshalb werden wir diesen Ort nicht betreten, raunte der Fahle und preschte aus dem Nichts an ihrer Stute vorbei, um ihr den Weg abzuschneiden. Das Tier verkroch sich wütend hinter dem Zügel und scharrte so heftig mit dem Vorderhuf, dass nasse Erdklumpen durch die Luft flogen. Du wirst umdrehen. Hier gibt es nichts für dich … Sein Lachen rann ihr kalt den Rücken hinab.
Christina schüttelte unwillig den Kopf. Er umkreiste sie, zielte mit dem Speer auf sie, und die aufwirbelnde Mähne des fahlen Totenpferdes nahm ihr fast die Sicht auf das Kloster. Sie würde sich von ihm nicht den Weg abschneiden lassen. Ihr Pferd war mutig genug, es mit dem Teufel aufzunehmen – warum zögerte sie nur?
»Wollt Ihr hier übernachten, hlæfdige ? Ich gehe davon aus, dass Ihr hier Euer ersehntes Ziel erreicht habt.« Máelsnechtai trieb sein Pferd dicht neben die Stute und griff nach Christinas Kinn. Das höfische Geplänkel, das er bis zuletzt betrieben hatte, um ihr die Strapazen der Reise zu erleichtern, war beendet. »Wir hatten eine Abmachung, wenn Ihr Euch erinnert. Nun erfüllt Eure Aufgabe und haltet mich nicht zum Narren.« Seine Finger gruben sich bis an den Knochen, doch sie hielt ihm trotzig stand, obwohl der eisige Blick Gefahr verhieß.
»Ihr habt mir Unversehrtheit zugesagt. Ich hoffe auf Euer Wort«, sagte sie und blickte ihm geradewegs in die Augen. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, denn er ließ ihr Kinn los. Dieser kleine Sieg gab ihr endlich die Kraft, ihr Pferd vorwärtszutreiben, an ihm und dem Fahlen vorbei und durch das Loch der zerfallenen Mauer in den Bezirk des Klosters hinein.
Máelsnechtai folgte ihr nicht.
Der ehemalige Klosterhof war von schlaffem Unkraut überwuchert. Es hatte einen üppigen Sommer gehabt und war nun mit der Kälte in sich zusammengesunken. Die Hufe wirbelten raschelndes Laub auf und platschten durch Pfützen, die sich dort gebildet hatten, wo fleißige Mönche einst einen Küchengarten mit guter Erde angelegt hatten. Verwelkte Pastinakenblätter und wild wuchernde Kräuterranken verrieten, dass es in Jarrow zu guten Zeiten keinen Hunger gegeben haben dürfte.
Obwohl der Überfall schon ein gutes Jahr her war, lag immer noch Brandgeruch über den Ruinen. Schwarz verfärbte Granitsteine, die ein zerstörerischer Geist von den Mauern in die Tiefe gestürzt hatte, nachdem der Dachstuhl abgebrannt war, lagen wie Tote nebeneinander und schwiegen sich aus über die grausamen Stunden. Du wirst niemanden finden, der dir was erzählt, flüsterte das geschwärzte Mauerwerk, sie sind alle
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