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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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hlæfweard . Bitte lasst mich nun alleine.«
    Er starrte sie an. Und zu ihrem größten Erstaunen drehte er sein Pferd um und ritt langsam aus der Kirchenruine hinaus. Der Wind fegte den Pferdeschweif hoch, die langen Haare verfingen sich im Efeu und wurden den Ranken wieder entrissen, als das Pferd um die Biegung verschwand. Die Stille kam zurück in die Ruine. Sie fand Frieden vor und machte es sich bequem.
    Christina hatte den Zügel sinken lassen. Sie stand da, und die Stille drang in sie ein, durchfloss sie wie ein erfrischender Strom und schenkte ihr Ruhe für das, was vor ihr lag. Auf einmal war es so einfach, ihre kleine Welt zu sortieren – der Schotte war gegangen, der Alte hatte sich aufgesetzt. Nial war weit weg. Es lag an ihr, den nächsten einfachen Schritt zu tun. Niemand würde sie noch hindern. Und so zog sie langsam das Bündel von ihrem Rücken, gestattete sich einen kurzen Moment der Erleichterung, als die wunden Schultern aufatmeten, und legte das Bündel dann auf den Boden. Sorgfältig schlug sie die Leinentücher auseinander.
    Da lag es, trotz der Fesseln, die Beth ihm noch angelegt hatte, goldglänzend … unverschämt glänzend und stolz. Prahlerisch in seiner gleißenden Schönheit, den Schmutz der Ruine verhöhnend. Christina vermied es, das Buch anzufassen. Die ganzen Tage hatte sie es auf ihrem Rücken geschleppt – nun wollte sie es einfach nur noch loswerden.
    »Aaaahhhh …«, seufzte der alte Mann und rappelte sich mühsam aus dem Schlamm hoch. Erst setzte er ein Bein auf, dann hievte er sich über den Ellbogen auf die Füße, und er tat dies mit solch einer Würde, dass es Christina nicht in den Sinn kam, ihm Hilfe anzubieten. Er hätte sie niemals angenommen. Mit langsamen Schritten schlich er auf das Buch zu, wischte sich die Hände an seinem Kittel sauber und streckte sie nach dem Buch aus – dabei konnte er doch gar nicht wissen, was sie gerade getan hatte! Ihr wurde immer unheimlicher zumute …
    »Ich … ich …«, stotterte sie, »ich habe Euch etwas mitgebracht …«
    »Ich weiß«, murmelte der Alte und kam noch einen Schritt näher.
    »Es stammt aus diesem Kloster«, flüsterte sie. Kalter Schauer rieselte ihren Rücken herab. Die Augenhöhlen schienen immer heller zu werden, als ob dahinter eine geheime Lichtquelle saß. »Es wurde gestohlen …«
    »Ich weiß«, kam es wieder. »Der goldene Schatz – unser Schatz, unser wundervoller … ich erkenne dich ja wieder, mein Schatz …« Mit lautem Stöhnen fiel er vor dem Buch auf die Knie, und seine gichtigen Finger wanderten mit großer Zärtlichkeit über den Einband, umfuhren jeden einzelnen Edelstein wie einen Freund, liebkosten die goldenen Ornamente, die ein Meister zwischen die Steine gesetzt hatte. Ganz offensichtlich kannten des Alten Hände jeden Schnörkel und jeden einzelnen Kringel.
    Das Stundenbuch war bei seinem Schöpfer angekommen.
    Ihre Furcht vor dem Alten verging. Stille streichelte sie stattdessen und schenkte ihr Ruhe, als sie ihm zusah, wie er über dem Buch versank. Christina holte tief Luft – alles war richtig. Er würde ihr helfen können, das fahle Pferd loszuwerden, und Frieden in Margarets Ehe säen.
    Der Alte sah hoch und in ihre Richtung. Sie fühlte sich von den silbrig schimmernden Augenhöhlen beobachtet. Das Gefühl verstärkte sich, als sie sich zwang, länger hineinzuschauen. Da waren keine Augen. Wie konnte er all das wissen, wie konnte er sehen? Der Alte bewegte sich nicht. Sah sie nur an, studierte ihr Gesicht mit Blicken, die sie nicht verfolgen konnte. Dann verzogen sich die dünnen, blutleeren Lippen zu einem Lächeln. Tausend kleine Fältchen umspielten die weißen Höhlen, und das Gesicht sah fast freundlich aus. Sie umkrampfte ihre Finger. Wie konnte er sie sehen?
    »Du fragst dich, wie man so aussehen kann, nicht wahr?« Er kam nähergewackelt. »Ich kann dir erzählen, wie es war, Mädchen. Ich kann dir erzählen, wie es sich anfühlte, als sie mir vor Jahr und Tag das Messer in die Augen stießen, einmal herumdrehten und wieder herauszogen. Wie ihre Finger in meinem Kopf bohrten, damit nichts von meinem Auge übrig blieb. Und wie es sich anfühlte, als Blut und Wasser über meine Wangen strömten. Wie mein Kopf zu platzen drohte und sie nur lachten und mir die Fesseln nicht lösten, damit ich meine Wunden mit den Händen bedecken konnte, weil das vielleicht den Schmerz gelindert hätte …«
    »Nicht …«, unterbrach Christina ihn hastig. Ihr war übel von seinen

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