Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
kostete sie große Kraft, die fordernde Geborgenheit seiner Arme zu verlassen, doch er war klug genug, sie nicht festzuhalten.
Der Mórmaer stand immer noch da und starrte sie an. Grimmig, eifersüchtig, besitzergreifend. Tränenspuren hatten eigenartige Pfade in sein staubiges Gesicht geschürft – der nächste Regen würde auch die Erinnerung an diese Nacht tilgen und den alten Hass gegen den Bruder herauswaschen. Sie wagte nicht einmal, Nial einen Hinweis zu geben. Sie ließ Nial auch in dem Wissen zurück, dass sie Máelsnechtais Blicke mit sich nahm und ihn ein weiteres Mal von Nial ablenkte.
Der Mantel bot nur ungenügend Schutz vor Kälte, trotzdem wagte sie sich in den Altarraum. Eine schüchterne kleine Morgensonne lugte zwischen den Ruinenteilen hervor. Sie warf goldenes Licht über den Stein und ließ das Moos auf den Trümmern zauberhaft schimmern. Sie war schwach, aber sie schaffte es, vergessen zu machen, dass hier in der Nacht eine Welt untergegangen war und Menschenleben mitgenommen hatte. Den Schnee zu schmelzen vermochte sie nicht, doch sie warf ihr zartes Licht über die Flockenschicht, um dem Tod ein wenig Dramatik zu nehmen. Niemand war da, um ihr zu sagen, dass der Tod dramatisch war, egal wie viel Licht man über Leichen warf und wie sehr man einzelne Staubteilchen zum Leuchten brachte. Die Morgensonne war noch jung – bis zum Abend würde sie gelernt haben, dass Schicksal niemals glänzt und dass Tränen das Licht nur reflektieren …
Christina liefen die Tränen übers Gesicht. Die Einsamkeit des alten Mönchs war vorüber. Er war seinen misshandelten Brüdern in die Ewigkeit gefolgt. Die tragische Geschichte des Klosters hatte ein Ende gefunden, ohne dass sie den Namen des Alten erfahren hatte – nun würde der namenlose Rächer ein namenloses Grab bekommen und hoffentlich Gnade vor seinem Schöpfer finden. Seine Hände glitten sanft über die befreiten Buchseiten, als sie ihn vom Altar zog und auf der zerbrochenen Stufe vor dem Altarstein zur Ruhe legte.
Dann schlug sie das Stundenbuch zu. Staub wirbelte auf, Licht brach sich darin, glitzernd rieselten Staubkörner herab. Das Buch war nun zahm und dünn, und es fühlte sich so leicht an wie eine einzelne Buchseite. So leicht wie der Rückweg zu Margaret. So leicht wie deren frohes Lachen, das durch ihren Kopf perlte. Sein Gewicht hatte sich zusammen mit dem Fluch aufgelöst. Alles würde gut werden. Das Buch würde Margarets Kammer zieren und ihre Tage begleiten, es würde die Spuren ihrer feinen Hände tragen, die es täglich aufschlugen, es würde sie erfrischen, beglücken. Sachte strich sie über den goldenen Deckel, der flach und kühl unter ihrer Hand liegen blieb. Nichts deutete mehr darauf hin, dass er einmal einen eigenen Willen gehabt hatte.
»Deine Seele ist für Gott bestimmt«, sagte da jemand. Sie fuhr herum. Da war niemand.
Außer dem Toten … der seine weißen Augen auf sie gerichtet hatte. Christina kniete neben ihn. »Du lebst«, flüsterte sie. »Du lebst ja – lieber Gott – du lebst!« Er tastete nach ihrem Gesicht, ließ seine verkrümmten Finger über ihre Wangen wandern. Dann seufzte er tief.
»Deine Seele ist für Gott bestimmt, Mädchen«, wiederholte er, »vergeude sie nicht an ein irdisches Leben, hörst du? Vergeude sie nicht, behalte sie für Gott …« Er fixierte sie mit aller Lebensenergie, die ihm noch geblieben war. »Bewahre sie für Gott!« Dann verloschen seine weißen Augen, als hätte jemand eine Kerze dahinter ausgehaucht.
Der Klosterhüter war endgültig zu seinen Brüdern gegangen. Jarrow blieb als einsamer Steinhaufen zurück, der stumm darauf wartete, dass Gottes Diener sich seiner eines Tages wieder erbarmen würden und vielleicht den Mut hatten, es der Natur zu entreißen und zu neuem Leben zu erwecken.
»Libera, Domine, servum tuum, sicut liberasti David de manu regis Saul, et de manu Goliae. Subvenite Sancti Dei, occurrite, Angeli Domini. Suscipientes animam eius. Offerentes eam in conspectu Altissimi .« Wie von selber kamen ihr die Totengebete über die Lippen, die eigentlich ein Priester sprechen musste. Doch da niemand sonst die Totenklage anstimmte, schien es ihr passend, dass sie dem Alten den Weg so weit ebnete, wie es ihr möglich war. » Suscipiat te Christus, qui vocavit te, et in sinum Abrahae Angeli deducant te …«
Der Mórmaer starrte sie immer noch in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Ingrimm an. Als sie verstummte, schlich er näher.
»Wie könnt Ihr
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