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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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der Brocken nicht einmal von der Leiche heruntergerollt war. Nial kniete neben dem Toten. Tränen liefen ihm über das Gesicht, denn Lazarus war erlöst zu Gott gegangen: Glatt und ebenmäßig bedeckte die unversehrte Haut sein Gesicht, feine blonde Härchen deuteten den Bartwuchs eines gut aussehenden Mannes an, eine buschige helle Augenbraue wachte über die friedlichen Züge. Mit einem kurzen Gebet für die Seele des Mannes schloss Nial die halb offenen Augen und bedeckte rasch den Kopf mit seinem Mantel, der wie ein Flügel neben ihm lag.
    Sie lag zwischen den Trümmern, die sie wie durch ein Wunder verschont hatten. Er entdeckte sie sofort, obwohl sie so weit entfernt war. Schnee bedeckte ihren zierlichen Körper, um sie vor den wilden Tieren zu schützen, die mit der nächsten Nacht den veränderten Ort besuchen würden. Ein wenig wehte er zur Seite, vielleicht damit Nial sie fand. Auf allen vieren kroch er über die Schuttschicht und durch das von ihren Haaren versperrte Tor, das keines mehr war, weil auch hier die Pfeiler eingestürzt waren. Und weiter über den schneebedeckten Boden der Kathedrale, die keine mehr war, weil Gott ihr einst den Rücken gekehrt hatte, als Er es zuließ, dass Barbaren sein Haus verwüsteten.
    Der letzte Hüter des Hauses – und sein Rächer – lag tot über dem Altar hingestreckt, ebenfalls erschlagen von den Trümmern seiner Kirche, und mit seinem ausgemergelten Körper schützte er das goldene Stundenbuch, das Christina ins Verderben geführt hatte und das nun ein verlogenes Licht über das Totenkleid von Jarrow warf …
    Nial stöhnte auf. Er rappelte sich hoch und stürzte auf die Frauengestalt zu, die auf wundersame Weise von allen Steinen verschont geblieben war. Mit beiden Händen wischte er den Schnee beiseite und drehte sie um. Ihr Gesicht war blass und wunderschön. Keine Falte und keine Wunde nahmen ihm den Zauber, tiefer Friede wohnte in den Zügen. Ihr Leib war von keinerlei Schrammen entstellt. Sie hatte keine Schmerzen gehabt …
    Schnee knirschte unter schweren Schritten, dann kniete Máelsnechtai neben ihm. »Ist sie tot?«, fragte er mit erstickter Stimme. Und: »Ich hätte alles für sie getan …« Und statt sie wie Nial nur fassungslos anzugaffen, zog er seinen Umhang aus und legte ihn über den nackten Körper, der die Blicke eines Mannes wahnsinnig werden lassen musste. Dann stolperte er davon, und man hörte ihn schluchzen und fluchen und nach den Steinen treten, die so viel Unheil gebracht hatten.
    Nial hüllte sie in den Umhang. Er tat das sorgfältig, dabei spielte es doch keine Rolle mehr, weil sie dort, wo sie nun war, nichts wärmen konnte. Noch war er taub für die Trauer und blind für den Schmerz, noch hielt er sich aufrecht, weil ihr Werk nicht vollendet war. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Gedanke in seinem Kopf ausgeformt war und sich gegen die Verlockung wehren konnte, einfach hier sitzen zu bleiben – für immer.
    Das Buch musste nach Dunfermline zurück. Sie hätte das so gewollt. Und sie musste auch nach Dunfermline zurück. Leise betete er einen Psalm für ihre Seele – das half, das Herz zur Arbeit anzutreiben, weiterzuschlagen, und es half, dass er sich nicht einfach neben sie legte, seinem plötzlichen Todeswunsch nachgab …
    Zwei weiße Arme streckten sich ihm entgegen. Sie umschlangen seinen Hals wie lange Tentakel, umfingen ihn komplett, bis ihre Hände seine Schultern erreichten, und er fühlte ihr Gesicht an seiner Wange, ihr Haar über seinen Augen, ihren Mund an seinem Hals, als sie mit zitternder Stimme flüsterte: »Bring mich nach Hause, Nial …«
    Er lief tiefrot an, fühlte sich ertappt in seiner weibischen Schwäche, für die ihn früher schon alle verlacht hatten, und drückte sie an sich, damit sie nicht Zeugin seiner Scham wurde.
    »Du bist hier gewesen und hast für mich gebetet«, flüsterte sie. »Ich danke dir.« Und er verging fast unter ihrem Kuss an seinem Hals.
    Máelsnechtai hatte es gesehen, denn er drehte sich just in dem Moment zu ihnen um. An seiner Miene erkannte sie, dass nichts vergessen war, dass die Brüder sich vorhin vielleicht eine Stütze gewesen waren – dass sie aber immer noch dieselbe Frau begehrten. Selbst jetzt – hier an diesem Ort. Sie hatte wieder Angst um Nial, in dessen Armen sie lag, sich an ihm entlang auflöste, weil nur die Luft leicht genug war, ihr Herz zu tragen. Er küsste sie, und sie suchte seinen Mund nur nicht, weil noch etwas vor ihr lag, was wichtiger war. Es

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